Von momentanen Erschütterungen seines Glaubens ist niemand ganz frei; sonst wäre es eben kein »Glaube.« Aber durch die Erfahrungen, die man mit ihm macht, wird er allmählich doch zu einer Art von Wissen. Daher darf der Apostel Petrus mit Recht sagen: »Wir reden von Dingen, die wir wissen und gesehen haben; wir sind nicht bloß klugen Erzählungen gefolgt.«
Das muss auch heute jeder Prediger des Evangeliums von sich sagen können. Solange er das noch nicht kann, nützt seine Predigt nicht viel.
Die Sage von Lohengrin, die uns durch die schöne Oper nähergebracht worden ist, hat darin etwas sehr Überzeugendes:
Jeder echte Helfer der Menschheit kommt mit seinem eigentlichen geistigen Wesen aus einem unbekannten Land und hat daher etwas mehr oder weniger Fremdartiges an sich; und gleichzeitig kommt er nicht aus »Nacht und Leiden«, sondern aus »Licht und Wonne.« Das muss man ihm vor allen Dingen deutlich anspüren, dass er selbst durchgedrungen ist in dieses neue Leben. Die bloßen Klagelieder und Beschreibungen menschlichen Elends oder die bloßen, oft sehr schwachen Auseinandersetzungen mit Naturwissenschaft oder Sozialismus machen bei einem heutigen Propheten gar keinen Eindruck und sind keine Legitimation für ihn.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)