(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 1, Leipzig/Frauenfeld 1910)
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Ich habe keine Zeit. Das ist nicht allein die allergewöhnlichste und billigste Ausrede, wenn man sich einer nicht gerade formell bestehenden Pflicht oder Aufgabe entziehen will, sondern in der Tat – es wäre unrecht, dies zu leugnen – die Ausrede, die den größten Gehalt und Anschein von Wahrheit hat.
Und dennoch eine Ausrede? Ich antworte darauf mit einem bedingten »Ja« und will gleichzeitig versuchen zu zeigen, aus welchen Gründen der Zeitmangel vornehmlich entsteht und mit welchen Mitteln man sich, wenigstens einigermaßen, die nötige Zeit verschaffen kann. Meine Predigt hat also nicht, wie diejenige der Herren Theologen, drei Teile, sondern bloß zwei. Dies zur Beruhigung derer, die auch keine Zeit zum Lesen haben.
Der allernächste Grund des allgemein verbreiteten Zeitmangels liegt ganz natürlich in der heutigen Zeit selber. Sie hat etwas Unruhiges, Rastloses, beständig Aufgeregtes, dem man sich nicht leicht entziehen kann, wenn man kein Einsiedler ist. Wer mitleben will, muss mitlaufen. Könnte man die jetzige Welt aus gehöriger Vogelperspektive und zugleich bis ins Einzelnste hinein genau beobachten, so würde sie das Bild eines unruhig wimmelnden Ameisenhaufens darbieten, in dessen beständiger Bewegung schon allein der Anblick der Eisenbahnzüge, die Tag und Nacht durcheinanderjagen, das Gehirn des Beobachters verwirren müsste. Und etwas von dieser Betäubung teilt sich in der Tat fast allen mit, die an der Bewegung der Zeit intensiv teilnehmen.
Es gibt aber auch unendlich viele Leute, die gar nicht mehr wissen, warum sie den ganzen Tag eilen; und genug Müßiggänger, die so hastig durch die Straßen rennen oder sich auf Eisenbahnen und in Theatern drängen, als ob zu Hause die größte Arbeit auf sie wartete. Sie folgen eben dem allgemeinen Strom. Man sollte wirklich oft glauben, dass Zeit das Kostbarste und Seltenste auf Erden sei, denn selbst jene, die Geld genug haben – das man ja oft mit der Zeit vergleicht – haben heute keine Zeit mehr. Und solche, die es wie der Apostel Paulus verachten, ermahnen uns beständig, die »Zeit auszukaufen«, und haben oft etwas Treiberisches in ihrem ganzen Wesen, das mich schon in frühester Jugend verdross.
Zum Glück spricht Christus selbst auffallend wenig vom Arbeiten und hat sich auch selber stets zu allem Zeit genommen; das ist unser Trost gegenüber denen, die aus der Zeitbenutzung einen Götzen machen. Die ganz katholischen Gegenden (Engelberg, Disentis, Luzern, Tirol) haben für abgespannte Menschen etwas Beruhigendes. Man sieht dort nicht die beständige Arbeitshetze, den »Stecken des Treibers«, sondern ein Leben, das selbst für die Geringsten des Volkes noch über der bloßen Arbeitsleistung steht. Das bildet auch einen Teil der Anziehungskraft, welche die katholische Kirche heute besitzt, die sie aber einbüßen wird, wenn sie sich mit der Agitation einlässt.
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Und doch sind die Ergebnisse dieser Hast und Unruhe, im ganzen genommen, nicht übermäßig groß. Es gab Zeiten und Menschen, die ohne die heutige Rastlosigkeit und Übermüdung in manchen Bereichen viel mehr leisteten als die heutigen. Wo ist ein Luther zu finden, der in so unglaublich kurzer Zeit eine in ihrer Art unübertroffene Bibelübersetzung schreibt, ohne am Schluss einer solchen Arbeit zusammenzubrechen oder wenigstens halbe oder ganze Jahre von »Erholung« oder »Ausspannung« nötig zu haben? Wo sind unter den Gelehrten noch solche, deren Werke zuletzt Hunderte von Bänden füllen? Oder unter den Künstlern welche, die wie Michelangelo und Rafael malen, bauen, meißeln und dichten zugleich können? Oder welche wie Tizian, der im neunzigsten Jahr noch ein arbeitsfähiger Mann war, ohne jedes Jahr Bäder und Kurorte zu gebrauchen? Ganz kann also die heutige Übereiltheit und Nervosität nicht darin zu suchen sein, dass die modernen Menschen mehr und Besseres schaffen als die früheren, sondern es muss möglich sein, wenn auch vielleicht nicht mit allzu großer Rast, so doch ohne Hast zu leben und dabei doch etwas zu leisten.
Das erste Erfordernis hierzu ist sicherlich der Entschluss, sich nicht willenlos von dem allgemeinen Strom fortreißen zu lassen, sondern sich ihm entgegenzustellen und als freier Mensch leben zu wollen, nicht als ein Sklave, weder der Arbeit noch des Vergnügens. Doch lässt sich nicht leugnen, dass unsere ganze jetzige Arbeitsverteilung und nicht weniger die ganze sorgliche, auf Geldansammlung für viele kommende Generationen gerichtete »kapitalistische« Denkungsart dies sehr erschwert. Das ist der große Hintergrund unserer Frage, den wir nicht weiter berühren wollen: dass auch sie eng mit der Revolution1 zusammenhängt, welche die zivilisierte Menschheit durchzuarbeiten hat, bevor sie wieder zu gleichmäßigerer Arbeit und gleichmäßigerem Besitz gelangt.
Solange es, besonders in den gebildeten Klassen, noch Leute gibt, die nur arbeiten, wenn sie müssen, und um sobald wie möglich sich und die Ihrigen von dieser Last zu befreien, und wieder andere, die mit Stolz sagen: »Ich stamme aus einer Familie, in der man Federn nur am Hut trägt«2, solange wird es auch immer viele geben, die zu wenig Zeit haben, eben weil wenige zu viel davon besitzen.
Für unsere Lebensperiode handelt es sich daher in erster Linie nur um ein defensives Verhalten mit kleineren Mitteln:
1) Das vorzüglichste Mittel, Zeit zu haben, ist eine regelmäßige, nicht bloß stoßweise Arbeit mit bestimmten Tages-, nicht Nachtstunden und sechs Arbeitstagen in der Woche, nicht fünf und nicht sieben. – Die Nacht zum Tag zu machen oder den Sonntag zum Werktag, das ist das beste Mittel, niemals Zeit und Arbeitskraft zu besitzen. Auch das wochen- und monatelange »Ausspannen« ist bedenklich, wenn es ganz wörtlich genommen wird und eine völlige Enthaltung von aller Arbeit bedeutet.
Ich hoffe, in der medizinischen Wissenschaft wird eine Zeit herankommen, in der man mit größerer Bestimmtheit, als es jetzt der Fall ist, den Satz aufstellt und beweist, dass regelmäßige Arbeit namentlich in älteren Jahren das weitaus beste Erhaltungsmittel der körperlichen und geistigen Gesundheit ist. Der Müßiggang macht unendlich viel müder und nervöser als die Arbeit und schwächt die Widerstandskraft, auf der eigentlich alle Gesundheit beruht.
Allerdings kann die Arbeit übertrieben werden, und dies ist vor allem dann der Fall, wenn man dabei nur die Wirkung, das Werk, und nicht die Arbeit selber liebt. Dann ist es sehr schwer, das richtige Maß einzuhalten, und schon ein uralter Prediger sagt seufzend: »Einem jeden Menschen ist Arbeit auferlegt nach seinem Maße; aber es ist sein Herz, das nicht dabei bleiben kann.« Übrigens hat die Natur uns einen Warner in Form der natürlichen, von Arbeit herrührenden Ermüdung an die Seite gestellt. Den muss man nur beachten und nicht durch Reizmittel täuschen, um dieses Maß ohne viel Philosophie beständig bei der Hand zu haben.
Hierher gehört auch die Devise des Kaisers Augustus: »festina lente« oder »Eile mit Weile.« Sich selbst und andere übermäßig drängen führt gewöhnlich nicht zu einer wirklichen Erledigung der Sachen.
2) Eine große Erleichterung der regelmäßigen Arbeit ist ein bestimmter Beruf, der ganz bestimmte Arbeitspflichten mit sich bringt. Daher ist es auch eine richtige Idee der Staatsromane und der sozialistischen Schriftsteller, dass sie sich die allgemeine Organisation der Arbeit in der Form einer Armee vorstellen, also in der Lebensform, in der Ordnung und Pflichtmäßigkeit der Arbeit am schärfsten betont ist. Es weiß auch jeder, der es selbst mitgemacht hat, dass man sich – übermäßige Anstrengungen ausgenommen – nirgends wohler fühlt als im Militärdienst, wo jede Stunde des Tages ihre geordnete und wohlabgemessene Aufgabe hat, die durch keine Grübelei gestört wird, ob man wolle oder nicht wolle, und bei der niemand Zeit hat, im Voraus an die Aufgaben des folgenden Tages zu denken.
Es ist das Unglück vieler reicher Leute unserer Zeit, dass sie keinen Beruf ergreifen, wenn sie es auch – wie die gewöhnliche Redensart lautet – nicht nötig haben. Für manche unter ihnen würde es eine Erlösung aus einem stets unbefriedigten Dilettantismus sein, wenn das Beispiel des deutschen Fürsten mehr Nachahmung fände, der Augenarzt geworden ist. Ich glaube auch, dass der Hang zum Studieren, der jetzt das weibliche Geschlecht ergriffen hat, teilweise keinen andern tieferen Grund besitzt als den Trieb der menschlichen Natur zu einer berufsmäßigen Arbeit.
3) Eine andere oft besprochene Frage ist die äußere Tageseinteilung für die Arbeit. Für große Städte mit sehr weiten Entfernungen, für unverheiratete Leute mit einer mehr oder weniger mechanischen Arbeit oder für alle, welche die Arbeit als eine Last ansehen, die man so rasch wie möglich abzutun bemüht sein muss, ist die sogenannte englische, ununterbrochene Arbeitszeit zweckmäßig. Mit ihr ist es aber niemals möglich, so viel wirkliche geistige Arbeit zu vollbringen wie bei unserem schweizerischen System einer eigentlichen Mittagspause. Niemand kann ununterbrochen oder mit einer ganz kleinen Pause sechs bis acht Stunden wirklich geistig produktiv arbeiten. Dagegen ist es ganz leicht, mit unserem jetzigen System zehn bis elf Stunden zu arbeiten, vier am Vormittag, vier am Nachmittag und zwei bis drei am Abend. Und die meisten von uns würden auch nicht mit dem vielgerühmten Achtstundentag auskommen, obwohl wir gewöhnlich nicht die Ehre haben, »Arbeiter« genannt zu werden.
4) Der nächste wesentliche Punkt ist, nicht viele Umstände mit sich selbst zu machen, das heißt: keine langen Vorbereitungen mit Zeit, Platz, Stellung, Lust und Stimmung. Die Lust kommt von selbst, wenn man angefangen hat, und selbst eine gewisse Müdigkeit, die anfangs oft vorhanden ist, verschwindet (wenn sie nicht echte körperliche Ursachen hat), sobald man sich nicht bloß defensiv, sondern aggressiv zur Arbeit verhält.
Das Mögliche soll der Entschluss
Beherzt sogleich beim Schopfe fassen;
Er will es dann nicht fahren lassen
Und wirket weiter, weil er muss.3
Wenn man sich überhaupt im Leben darauf einlässt, seinen trägeren, im Sinne des Apostels Paulus seinen »alten« Menschen immer lange zu fragen, was er jetzt gerade möchte oder nicht möchte, dann wird er kaum jemals für ernstliche Arbeit stimmen, sondern sich mit guten religiösen oder moralischen Prinzipien begnügen. – Der schlechtere Teil des Menschen muss sich gewöhnen, dem kategorischen Imperativ des besseren ohne Murren zu gehorchen. Wenn er das mit soldatischer Disziplin kann, dann ist der Mensch auf dem rechten Weg, vorher nicht. Und dann erst weiß man bei ihm, dass sein Leben gewonnen und nicht verloren wird.
Auch dass man vorher die Gedanken sammeln, über die Arbeit nachdenken will, ist in den meisten Fällen eine Ausrede, ganz besonders, wenn man dazu noch gar eine Zigarre anzündet. Rauchen ist überhaupt ein großer Zeitverderb wegen der vielen Beschäftigung, die damit verbunden ist – eine ganz schlechte Gewohnheit für Leute, die viel arbeiten wollen.
Die besten Gedanken kommen während der Arbeit, oft sogar während der Arbeit an einem ganz anderen Gegenstand. Ein berühmter Prediger der Gegenwart tut den originellen Ausspruch, der allerdings nicht ganz wahr ist, es sei in der Bibel kein Fall aufgezählt, wo ein Engel einem unbeschäftigten Menschen erschienen sei.
5) Damit hängt unmittelbar zusammen die Benutzung der kleinen Zeitabschnitte. Viele Leute haben deswegen keine Zeit, weil sie immer eine unabsehbar große Zeitfläche, ungehindert von allem andern, vor sich sehen wollen, bevor sie sich zur Arbeit anschicken. Darin liegt zunächst eine doppelte Selbsttäuschung. Denn erstens ist so etwas in manchen Lebensverhältnissen nur sehr schwer zu bewerkstelligen, und zweitens ist auch die menschliche Arbeitskraft nicht eine unbegrenzte, die große Zeiträume ununterbrochen ausfüllen kann. Besonders bei geistigen Arbeiten, die wirklich etwas hervorbringen sollen, kann man ohne Übertreibung sagen, dass die erste Stunde, oder selbst oft die erste halbe Stunde die beste ist.
Aber auch abgesehen von wirklichen größeren Arbeitsleistungen gehören zu jeder Arbeit eine ganze Anzahl von Nebentätigkeiten vorbereitender, kontrollierender, mechanisch auszuführender Art, für die Viertelstunden genügen. Werden diese nicht in sonst verlorengehende Zeitabschnitte verlegt, nehmen sie die Hauptarbeitszeit und Arbeitskraft mit in Anspruch. Man darf wohl behaupten, dass die Benutzung kleiner Zeitabschnitte, die völlige Beseitigung des Gedankens, »es ist heute nicht mehr der Mühe wert, anzufangen«, die Hälfte der ganzen Arbeitsleistung eines Menschen ausmachen kann.
6) Ein weiteres Hauptmittel der Zeitersparnis ist die Abwechslung im Gegenstand der Arbeit. Abwechslung ist fast so gut wie völlige Ruhe, und mit einer gewissen Geschicklichkeit darin, die man durch Übung mehr als durch Nachdenken erwirbt, kann man fast den ganzen Tag fortarbeiten. Auch eine erquickende Lektüre zwischen zwei Arbeiten kann den Effekt eines Stärkungsmittels haben. Überhaupt ist es wunderbar, wie viel Arbeit der Mensch aushält, wenn der Geist in ihm lebendig ist, und wie wenig, wenn er gleichsam hinter die Leiblichkeit zurücktritt und von derselben gefangen ist.
Es stellt sich auch nach meiner Erfahrung als ein Irrtum heraus, wenn man immer zuerst eine Arbeit ganz fertig machen will, bevor man eine andere anfängt. Vielmehr sind die Künstler im richtigen Fahrwasser, die sich oft mit einer ganzen Reihe von Projekten und angefangenen Arbeiten umgeben und je nach Neigung des Augenblicks, die ganz unkontrollierbar ist, sich bald der einen, bald der anderen zuwenden.
Dies ist, nebenbei gesagt, auch ein ausgezeichnetes Mittel der Selbstkontrolle. Denn oft überredet der alte Adam den besseren Menschen in uns, er sei eigentlich nicht faul, sondern bloß nicht gerade gestimmt zu dieser oder jener Arbeit. Da muss man dann zu sich selbst sagen: »Nun, so nimm eine andere vor.« Dann wird man gleich sehen, ob die Unlust nur der speziellen Arbeit gilt – in welchem Falle man ihr nachgeben kann – oder der Arbeit überhaupt. Man muss sich eben auch durch sich selbst nicht betrügen lassen.
Man kann bei dieser Arbeitsmethode auch größere Arbeiten nach und nach mit Leichtigkeit verrichten, die auf einmal, sozusagen auf einen Sitz, gar nicht möglich wären oder eine anschließende längere Erholung beanspruchten. Man sieht daher heute öfter Gelehrte, die nach Vollendung eines Werkes, an dem sie zu unausgesetzt gearbeitet haben, vollständig erschöpft sind. Überhaupt erhält die rechte Arbeit; die unnütze oder unrichtig verteilte reibt auf.
7) Ein anderer Punkt ist, rasch zu arbeiten und nicht zu viel auf die bloße äußere Form zu geben, sondern immer auf den Inhalt das wesentliche Gewicht zu legen. Die meisten Arbeiter werden aus Erfahrung mit mir einiggehen, wenn ich behaupte, die besten und wirksamsten Arbeiten sind jene, die schnell gemacht worden sind.
Sehr viele der größten literarischen Ereignisse der Weltgeschichte sind reine Gelegenheitsschriften, so zweifellos alle Evangelien, die sämtlichen Briefe der Apostel, wahrscheinlich auch ein großer Teil des Alten Testaments, die einzelnen Suren des Koran, aus neuerer Zeit Pilgrim‘s Progress, Onkel Toms Hütte, die kleineren Schriften Luthers oder die Lassalles, die man noch lesen wird, wenn kein Mensch mehr die heutigen Lehrbücher der Dogmatik oder »Das Kapital« von Marx liest. Überhaupt ist das Systematisch-Erschöpfende, wie ein geistreicher Prediger unserer Zeit sagt, größtenteils Täuschung. Um das recht zu erkennen, braucht man in jeder beliebigen Wissenschaft nur die berühmtesten systematischen Lehrbücher anzusehen, die vor zwanzig Jahren geschrieben worden sind.
Die Gründlichkeit ist eine sehr schöne und notwendige Sache, soweit sie die Wahrheit betrifft, die in der Tat auf das gründlichste ermittelt werden soll. Es gibt aber auch eine falsche Gründlichkeit, die sich in allerlei Kleinigkeiten und Nebensachen verliert (deren Untersuchung nicht der Mühe wert ist oder die überhaupt nicht wissbar sind) und die daher nie fertig werden kann. Freilich hat gerade das mitunter den größten Nimbus der Gelehrsamkeit. Diese ist nach Ansicht mancher Leute überhaupt erst dann recht gelehrt, wenn ihr Gegenstand auch nicht mehr den entferntesten sichtbaren Zweck und Nutzen hat, oder wenn ein Autor sein ganzes Leben lang über einem einzigen Buche gebrütet hat.
Die Wahrheit in jedem Fach ist meist so einfach, dass sie oft gar nicht gelehrt genug aussieht und man schon noch etwas dazu tun muss, um ihr einen anständigen akademischen Charakter zu geben. Und in die gelehrte Gesellschaft muss man sich in den meisten Fällen zuerst mit einer für einen selbst und andere unnützen Arbeit einkaufen, in der man den bisher unbekannten Ballast irgendeines Jahrhunderts zusammenschleppt. Nicht jedem ist es gegeben, danach noch Geist und Auffassung für das Leben zu behalten. Viele verlieren im Gegenteil über einer solchen Legitimationsarbeit nicht allein das Augenlicht, sondern auch das innere Licht, das noch mehr wert ist; sie sind, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, gar nicht mehr brauchbar.
Die Abwechslung zwischen Lernen und Handeln ist überhaupt wohl das, was den Geist des Menschen am gesündesten erhält. Das bloße gelehrte Wissen hat etwas Krankhaftes, und der Ausdruck »von des Gedankens Blässe angekränkelt« ist keine Übertreibung. Den größten Gelehrten aller Zeiten hat mitunter gerade das gefehlt, was vorzugsweise den Mann ausmacht. Das ist am sichtbarsten im Staatsleben, wo sie sehr oft Anbeter der Macht statt, wie es sich schickt, Vertreter der Freiheit sind.
8) Ein weiteres Hilfsmittel großer Zeitersparnis besteht darin, alles gleich richtig zu machen, nicht bloß »vorläufig« oder provisorisch.
Das ist heutzutage ungemein selten, und viel Schuld daran tragen meines Erachtens die Zeitungen, die den Menschen an ein solch oberflächliches Überblicken gewöhnen. »Wir kommen darauf gelegentlich zurück«, sagen sie dann am Schlusse eines solchen Leitartikels; aber das geschieht niemals, und so macht es der moderne Leser auch. Will er dann das Gelesene brauchen, muss er von vorn anfangen; es ist ihm von seinem raschen »Anlesen«, wie jetzt ein technisch gewordener Ausdruck lautet, nichts übrig geblieben. Die Zeit aber, die darauf verwendet wurde, ist eine verlorene.
Daher wissen die Menschen heute so wenig gründlich und müssen bei jedem Anlass das, was sie schon zehnmal gewusst hatten, zum elften Mal wieder studieren. Ja, es gibt Leute, die ungemein froh wären, wenn sie nur all das wüssten, was sie selbst geschrieben haben.
9) Äußerlich hängen damit zusammen die Ordnung und das Lesen aus erster Hand. Eine gute Ordnung macht es möglich, dass man nichts suchen muss (womit man bekanntlich nicht bloß die Zeit, sondern auch noch die Lust zur Arbeit verliert) und dass man einen Gegenstand nach dem anderen aus dem Kopf entlassen kann. Das Lesen der Quellen hat den Hauptvorteil, dass man nur dann der Sache ganz sicher ist und ein eigenes gründliches Urteil über sie bekommt. Daneben sind die Quellen in den meisten Fällen nicht nur viel kürzer, sondern auch viel interessanter und im Gedächtnis leichter haftend als das, was darüber geschrieben worden ist. Eine Kenntnis aus zweiter Hand gibt nie den Mut und das Selbstvertrauen wie die Quelle selbst. Und es ist auch ein großer Fehler unserer modernen Gelehrsamkeit gegenüber der antiken (wie schon Winckelmann es sagt), dass sie in vielen Fällen eigentlich nur darin besteht, zu wissen, was andere über einen Gegenstand gewusst und gedacht haben.
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Die Hauptsache in der Kunst, Zeit zu haben, ist das alles aber noch nicht. Sie besteht vielmehr darin, alles Unnütze aus seinem Leben zu verbannen. Dazu gehört nun ungemein vieles, was die moderne Zivilisation zu erfordern scheint, und ich bin ganz zufrieden, wenn man das Folgende mit einiger individueller Auswahl akzeptiert. Zum Beispiel:
Unnütz ist das Bier zu jeder Tageszeit, ganz besonders der durch den Fürsten Bismarck salonfähig gewordene Frühschoppen. Die Bierbrauer sind vielleicht die größten Zeitverderber unseres Jahrhunderts, und es wird wohl eine Zeit kommen müssen, in der man gegen das unmäßige Biertrinken mit der ganz gleichen Entschiedenheit auftreten muss, wie es gegen den Alkohol in anderer Form bereits geschieht.
Sodann das herrschende Übermaß im Zeitunglesen. Es gibt heutzutage »gebildete« Menschen, die nichts anderes mehr lesen als Zeitungen und in deren Häusern, die in allen möglichen und unmöglichen Stilarten gebaut und ausgestattet sind, kein Dutzend guter Bücher sich findet. Ihren ganzen Ideenbedarf schöpfen sie aus Zeitungen und Zeitschriften, die immer mehr auch darauf eingerichtet werden, solchen Lesern zu entsprechen.
Das übermäßige oder allzu ausschließliche Zeitunglesen wird bei uns vielfach mit politischem Interesse entschuldigt. Man muss aber nur sehen, was mit Vorliebe auch in der Zeitung gelesen wird, um zu erkennen, wie viel Wahres daran ist. – Auch die Tageszeit, die der Zeitung bestimmt wird, ist nicht ganz gleichgültig. Diejenigen Leute, die gleich die erste gute Morgenstunde mit einer oder zwei Zeitungen beginnen, verlieren die rechte Arbeitslust für den ganzen Tag. Es gibt jetzt berühmte Menschen, die in größter politischer Tätigkeit stehen, die gar keine Zeitungen mehr lesen, sondern sich bloß das Wissenswerte daraus durch Dritte kurz mitteilen lassen. Dahin wird es auch noch kommen, dass solche »substantielle« Blätter erstellt werden.
Dazu kommen die Feste und Vereine. Wer heute ein Vereinsmensch ist, kann die Zeit für wirkliches Arbeiten nicht mehr aufbringen. Er hat es auch nicht so nötig allerdings; denn er ersetzt die eigene Kraft durch die Macht der Masse, die ihn auf ihren Schultern trägt. Zu Festen wird nicht allein jeder nur denkbare Anlass hervorgesucht, sondern sie selbst dehnen sich in einer solchen Weise aus, dass nunmehr halbe und ganze Wochen für das Fest selbst und Monate für seine Vorbereitung nicht mehr genügen, während die sogenannte »Arbeit«, die dabei geleistet wird, an einem Vormittag vollständig geschehen könnte. Daher kommt es auch zum Teil, dass die brauchbarsten Leute sich davon mehr und mehr zurückziehen und nur die eigentlichen »Festbummler« übrigbleiben, die Zeit genug haben und für die die Sache demgemäß eingerichtet wird. Der Hauptbeweggrund aller dieser Feste ist Arbeitsunlust.
Bei einem Teil unserer Zeitgenossen ist es die Kunst, die unter einem anständigen Vorwand viel Zeit verdirbt, und zwar nicht einmal die selbst ausgeübte Kunst, sondern die bloß passiv in sich aufgenommene. In dieser etwas verfeinerten Genusssucht geht heute bei vielen all das in bloßem Rauch auf, was sie überhaupt an Idealismus und Sinn für das Große und Schöne in sich tragen.
Dazu kommt dann noch die viele Geselligkeit und das damit verbundene ganz zwecklose Besuchssystem, beides heute nur noch ein leerer Schatten dessen, was es früher wirklich bedeutete: nämlich geistige Anregung und wirkliche Freundschaft. Ich halte das Wort Goethes in allen Ehren, dass man um das, was sich ziemt, bei edlen Frauen anfragen müsse. Jedoch sollte eine Methode gefunden werden, wonach diese Anfragen in kürzerer Zeit als bisher und in früheren Tagesstunden Beantwortung fänden. Und man kann am Ende auch zu Orakeln zu viel wallfahren.
Vom Theaterwesen wollen wir gar nicht weiter reden. Dieses bedürfte, um seinen wirklichen Zweck zu erfüllen, einer so gründlichen Reform, dass von seinem jetzigen Zustand nichts mehr übrig bliebe. Auch die jetzt grassierende Konzertschwärmerei ist vielfach nichts anderes als der Versuch, eine innere Leere auszufüllen. Ebenso stammt ein großer Teil der beständigen politischen Agitation von Leuten, die keine Freude an ihrer gewöhnlichen Arbeit haben und daher darauf sehen müssen, dass »immer etwas geht.«
Von manchen sogenannten Bildungselementen unserer Zeit – ich nenne nur die oberflächlichen populären Erzeugnisse der materialistischen Philosophie und die schlechten französischen Romane und Theaterstücke – sollten die gebildetsten Menschen, vor allem die akademischen Kreise, den Mut haben, zu erklären: Wir kennen sie nicht. Es gehört vielleicht zur Allgemeinbildung, ein Stück als Repräsentanten der Gattung gelesen zu haben. Wer aber, ohne Schriftsteller, Journalist oder Literaturhistoriker zu sein, mehr als ein Stück von Flaubert, Zola, Ibsen usw. liest, der versündigt sich an seiner Zeit und seinem guten Geschmack; und wenn er eine »sie« ist, auch noch an seiner Natur und sozialen Aufgabe. Verzichtete man auf diese Art der »Bildung«, würde man wohl die Zeit finden, täglich etwas Ernsthaftes und zur allgemeinen Bildung wirklich Beitragendes zu lesen, etwas, das zur Kräftigung des Geistes gehört und mit dem man sich wirklich im Kontakt mit der geistigen Bewegung seiner Zeit erhalten kann.
Bleiben noch zwei Punkte: Den einen drückt Rothe mit den Worten aus, keine Privatangelegenheiten zu haben, sei ein besonders erstrebenswertes Ziel. Man kann jedenfalls seine Privatinteressen und ihre Verwaltung sehr reduzieren, wenn man will, und dafür mehr in allgemeineren Gedanken leben. Und man wird sich gut dabei befinden.
Der andere, der sich mehr auf die Wirksamkeit bezieht, lautet: »Bleibe bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut ist.« Dafür wirst du fast immer Zeit genug besitzen. Ein altisraelitischer Spruch sagt das noch etwas derber so: »Wer seinen Acker baut, wird Brotes in Fülle haben; wer aber unnötigen Sachen nachgeht, der ist ein Narr.«
Von den Dingen, die einen nichts angehen, die aber eine gewisse Bedeutung in der Welt haben und einigermaßen zur Bildung gehören, muss man sich einmal im Leben eine deutliche Übersicht aus den besten Originalquellen zu verschaffen suchen und sie dann ruhig fallen lassen, ohne sich weiter damit zu beschäftigen. Es genügt beispielsweise für einen Juristen, wenn er einmal etwas Exaktes aus sachverständigem Munde über das Koch‘sche Heilmittel hört; er kann dann die spaltenlangen Artikel der Tagesblätter alle ungelesen lassen. Lassalle sagt in seinem »Offenen Antwortschreiben« sehr wahr: Die Kunst, ein praktisches Resultat seiner Arbeit zu erreichen, bestehe darin, seine Kraft auf einen Punkt zu sammeln und weder rechts noch links zu sehen. Was verlangt werden könne, sei nur das, dass dieser Punkt sich auf einer angemessenen Höhe befinde, also keine Spielerei oder Kuriosität, sondern etwas für die Menschheit Wertvolles sei.
Ich will dieses Kapitel über die Zeitverschwendung damit schließen, dass ich sage: Man darf sich auch keine unnützen Arbeiten aufbürden lassen. Davon gibt es heute eine unendliche Fülle in Form von Korrespondenzen, Komiteesitzungen, Berichten und nicht zuletzt Vorträgen, die Zeit erfordern und bei denen höchstwahrscheinlich gar nichts herauskommt.
Selbst der Apostel Paulus musste, als er den Athenern einen Vortrag hielt, die Erfahrung machen, dass sie nur darauf eingerichtet waren, »etwas Neues«, aber doch nichts Ernsthaftes, sie wirklich innerlich Bewegendes zu hören. Der ganze Erfolg seiner Predigt bestand darin, dass viele spotteten, die Freundlichsten aber mit wohlwollender Gönnermiene sagten: »Wir wollen dich dann ein anderes Mal wieder hören.« Der Berichterstatter über diesen Vorgang hält es sogar für nötig, ausdrücklich zu erwähnen, dass ein Mitglied des dortigen Regierungsrates und eine Dame aus der Gesellschaft der Rede des Apostels bleibenden Nutzen abgewonnen haben.
Ich frage nun Sie, ob auch die »Vorträge« unserer Zeit etwas sind, das Sie zu dauernden Einsichten und Entschlüssen in irgendeiner Richtung führt, oder ob sie »akademisch« sind und bleiben.
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Das sind die Mittel, Zeit zu sparen, die unter den heutigen Verhältnissen vorhanden und anwendbar sind.
Wendet man sie aber an, so füge ich bei: Ein wesentlicher Bestandteil unseres auf Erden erreichbaren Glücks ist es gerade, nicht viel Zeit zu haben. Der weitaus größte Teil des menschlichen Wohlbefindens besteht aus einer beständig fortlaufenden Arbeit mit dem Segen, der darauf ruht, und der sie schließlich zum Vergnügen macht. Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt, als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat. Suchen Sie die vor allen Dingen, wenn Sie glücklich sein wollen.
Die meisten verfehlten Lebensläufe haben die Grundursache, dass der Mensch keine, zu wenig oder nicht die rechte Arbeit hat, und nie schlägt sein leicht erregbares Herz ruhiger als in der natürlichen Unruhe lebhafter, aber ihn befriedigender Tätigkeit. Dies gilt nicht nur für geistige, sondern auch für körperliche Arbeit, wenn sie den Kräften angemessen ist und die Grundgesinnung des Menschen dabei die richtige ist. Die Idee der Sozialisten von einer Arbeitsarmee, in der jeder den bestimmten Platz angewiesen erhält, der ihm zukommt, wäre in der Tat das Hilfsmittel für den größeren Teil der menschlichen Übel, wenn es eine Garantie für die richtige Arbeitsverteilung gäbe.
Im Übrigen darf man die Arbeit aber auch nicht zu einem Götzen werden lassen, dem man dient, sondern man muss mit ihr dem wahren Gott dienen. Alle, die das nicht beachten, verfallen in ihren älteren Lebensjahren der geistigen oder körperlichen Zerrüttung.
Sonst aber gibt es nur zwei Dinge für Menschen jedes Glaubens, die sie im Leben nicht im Stich lassen und die in jedem Ungemach trösten: Arbeit und Liebe. Diejenigen, die hierauf verzichten, begehen mehr als einen Selbstmord; sie wissen gar nicht, was sie von sich werfen. Wir können in diesem Leben eine Ruhe ohne Arbeit nicht ertragen. Die beste Verheißung, die es dafür gibt, ist die in dem letzten Segen des Moses über den Asser: »Deine Fußstapfen sollen bleiben wie in Eisen und Erz, und so lange wie deine Tage wird dauern deine Kraft.« (5 Mos 33 25, vgl. auch Ps 92 15) Etwas Besseres soll sich der Mensch nicht wünschen und, wenn er es hat, dankbar dafür sein.
Beständige Arbeit befriedigt allerdings nur, wenn die Streberei fehlt, die im Grunde nicht arbeiten, sondern nur so rasch wie möglich den Erfolg sehen will, und sei es nur ein scheinbarer. Das ist der wahre Moloch unserer Zeit, dem wir unsere Kinder opfern müssen und der mehr jugendliche Opfer körperlich und geistig vernichtet als alle anderen Ursachen. Gewöhnlich ist mit der Streberei dann noch die Vorstellung von einem kurzen, auf rein materielle Grundlagen aufgebauten Leben verbunden, das in wenigen Jahren alles das leisten soll, was ein beständiger erbarmungsloser Kampf ums Dasein (in dem nur die Allerstärksten siegen können) von ihm zu fordern scheint. Bei dieser Vorstellung ist von einer ruhigen, segensreichen Arbeit überhaupt keine Rede mehr. Die Zeit ist dann wirklich zu kurz und jede Kunst zu lang.
Die wahre Arbeit hat zu Überflüssigem und Unnützem nie Zeit, aber stets zum Rechten und Wahren. Sie wächst am ehesten auf dem Boden einer Weltanschauung, die eine unendliche Fortsetzung der Arbeit denkbar macht und für die das irdische Leben nur ein Teil des Lebens ist.
Aus dieser Anschauung entsteht die Geduld, die sich auch bei den größten Schwierigkeiten und Hindernissen persönlicher oder zeitlicher Natur nicht erschöpft, und der Mut, auch die höchsten Aufgaben zu übernehmen: Aufgaben, die nicht bloß mit einer individuellen menschlichen Kraft bewältigt werden müssen, sondern zu denen eine unendliche Zeit und eine große Mitarbeiterschaft vorhanden sind. Hier kommt es nicht mehr darauf an, was wir speziell dabei ausrichten, auch nicht für unsere persönliche Befriedigung, denn diese bedarf keines sichtbaren Erfolges mehr. Das ist die Freiheit von dem Joch und die Arbeit der Freien. Vgl. Ps 68 20 und Jes 58 6–12.
Und schließlich entsteht aus dieser Haltung die ruhige Ablehnung von vielem, was bei der einen Weltanschauung als sehr richtig erscheinen mag, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet aber sofort allen Wert verliert. Das ist auch der Sinn des schönen und in unserer bewegten Zeit doppelt beruhigenden Wortes des Görlitzer Philosophen Jakob Böhme, der diesen Spruch einem Freund ins Stammbuch schrieb:
Wem Zeit ist wie Ewigkeit
und Ewigkeit wie Zeit
Der ist befreit
Von allem Streit.