Glück

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 1, Leipzig/Frauenfeld 1910)

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zusammen mit anderen Aufsätzen in Carl Hilty: Lebenkunst und Lebensglück.

Man kann vom philosophischen Standpunkt aus dagegen sagen, was man will – was der Mensch ab der ersten Stunde des erwachenden Bewusstseins bis zu dessen Erlöschen am eifrigsten sucht, ist einfach das Gefühl des Glücks. Und der bitterste Augenblick, den er erlebt, ist, wenn sich die Überzeugung in ihm vollendet, dass es auf Erden in Wirklichkeit nicht zu finden ist.

Das Glück ist eigentlich der Schlüssel aller unserer Gedanken. Jeder sucht es für sich; viele suchen es, wenn sie es einzeln nicht erreichen können, in der Gemeinschaft. Es ist der letzte Grund alles Lernens, Strebens, aller staatlichen und kirchlichen Einrichtungen. Es ist das Lebensziel der Menschen: Glücklich wollen sie sein, um jeden Preis. Auch der ernsteste Stoiker will es, indem er auf das, worin andere Menschen das Glück zu finden glauben, verzichtet, um es in seiner Art zu finden. Und selbst der weltflüchtigste Christ sucht das Glück – nur in einem anderen Leben. Auch der Pessimist will sich in seinem Stolz glücklich fühlen, und der Buddhist verlegt das Glück in das Nichts, das Unbewusstsein. Es gibt nichts, worin alle Menschen so einig sind, wie das Glücksuchen.

Die Frage nach dem Glück verleiht ganzen Zeitaltern der Menschheit ihren Grundcharakter, gewissermaßen ihre Färbung. Heiter sind die Zeiten, in denen junge, aufstrebende Völker noch auf Glück hoffen oder in denen die ganze Menschheit in einer neuen philosophischen, religiösen oder vielleicht gar wirtschaftlichen Formel das Geheimnis der Weltverbesserung gefunden zu haben glaubt. Düster sind Perioden wie die unsrige, in denen sich den breiten Volksmassen die Erfahrung aufzudrängen scheint, dass alle diese schon vielgebrauchten Formeln Illusionen gewesen sind und die Einsichtigsten selbst uns sagen, das Wort »Glück« habe einen »melancholischen Ton«. Wenn man davon spreche, fliehe es bereits. Es liege also eigentlich bloß im Nichtbewusstsein.

Ich bin nicht dieser Meinung, sondern glaube, dass das Glück gefunden werden kann, Sonst würde ich lieber das Gegenteil schweigend hinnehmen und nicht durch Berührung noch verschärfen. Wahr ist allerdings, dass überall, wo von Glück gesprochen wird, ein stiller Seufzer mitzuklingen scheint, der einen Zweifel an seiner Erreichbarkeit andeutet. Und ebenso wahr ist, dass einzelne unrichtige Vorstellungen über das Glück zeitweise notwendig zu sein scheinen. Sonst würden weder einzelne Menschen noch Gemeinschaften jemals die Stufe der geistigen und materiellen Entwicklung erreichen, die als Unterlage für das wirkliche Glück erforderlich ist.

Darin liegt der größte Widerspruch, den wir in dieser Frage überhaupt finden: Wir müssen aus eigener Erfahrung manches vorher kennenlernen, was nicht Glück bringt, und mit dem größten aller Dichter1 den »düsteren Pfad durch die Stadt der Qualen« ebenso wie die »steilen Wege des Berges der Läuterung« selbst durchmessen haben, bevor »die süße Frucht, die aus so vielen Zweigen mit Eifer sucht der Sterblichen Begier« endlich »alle Wünsche zum Schweigen bringt

Das ist erreichbar, wenn auch schwerlich lehrbar. Diesen Weg, und besonders das letzte Stück, muss jeder Mensch allein gehen, ohne sichtbare Hilfe von irgendeiner Seite. Über einzelne große Schwierigkeiten, die er sonst vielleicht nie überwinden würde, trägt ihn sogar nur »der Adler mit den goldenen Federn« am Schluss großer innerer Krisen schlummernd hinweg:

Da sah ich, träumend, an des Himmels Hallen
Mit goldenem Gefieder einen Aar,
Gespreizt die Flügel, um herabzufallen

Ein wenig kreist‘ er erst im Bogen dort;
Dann schoss er schrecklich wie ein Blitz hernieder
Und riss mich zu dem Feuer aufwärts fort.

Dante, Purgatorio 9, 19

Der eigentlichen Betrachtung zugänglich sind nur die vielen falschen Wege zum Glück, auf denen jede neue Generation von Menschen aufs Neue in unbefriedigter Sehnsucht wandelt.

Diese Wege, auf denen die Menschheit das Glück sucht, sind entweder äußere: Reichtum, Ehre, Lebensgenuss, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kunst, oder innere: gutes Gewissen, Tugend, Arbeit, Menschenliebe, Religion, Leben in großen Ideen und Werken.

Äußere Wege zum Glück

Die äußeren Mittel haben alle den sehr großen Fehler, dass sie bei weitem nicht allen Menschen zugänglich sind und daher weder das Glück der Menschheit im Ganzen begründen noch in einem edler gearteten Gemüt etwas anderes herstellen können als einen Genuss mit schlechtem Gewissen. Entweder unedler Natur oder im Innersten beunruhigt ist heute jeder, der im Genuss dieser Lebensgüter an die Millionen menschlicher Geschöpfe denkt, die täglich neben ihm verkommen.

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen; er kann sich nicht in Gedanken ganz von seinesgleichen trennen, als ob deren Leiden ihn nichts angingen. Und wenn sich jemand als glücklich Besitzender für ganz befriedigt erklärt, glaube ich (nach manchen Erfahrungen) nicht so leicht an diesen Egoismus. Das ist vielmehr in den meisten Fällen eine konventionelle Lüge, ein gewaltsames Vergessen und Unterdrücken besserer Regungen. Sogar die veredelten Tiere scheinen ja ein größeres Glück zu kennen als diese bloße egoistische Befriedigung der eigenen Bedürfnisse.

Die Beunruhigung, die größerer Besitz mit sich bringt, ist der Grund, warum Christus von dem »ungerechten« Mammon spricht und geradezu sagt, schwerlich komme ein Reicher in das Himmelreich; niemand könne zum Glauben gelangen, der Ehre von anderen nehme; und alles, was hoch sei unter den Menschen, sei einfach »ein Gräuel vor Gott.« Es ist der völlig und allein logische Gedankengang, der Franziskus von Assisi und noch viele andere vor und nach ihm bewog, um jeden Preis diese Fessel des Reichtums abzustreifen, die in der Tat eine ungeheure Schranke auch für den Geist bildet, von der nur wenige Menschen ganz frei sind.

Manche Pfarrer sagen mitunter, man könne auch »besitzen, als besäße man nicht«, und betrachten die Lebensgüter unter dieser großen Beruhigung mit Wohlgefallen. Selbst für die Missionare einzelner Kirchen wird ein Grad von Bequemlichkeit des Lebens erforderlich erachtet, von dem der Apostel Paulus noch wenig wusste. Ich will die Möglichkeit dieser Anschauung nicht bestreiten; mir scheint nur, die ideelle Armut sei noch schwieriger durchführbar als die wirkliche. Daher haben auch die meisten Leute, denen es Ernst damit war, die wirkliche Armut als den leichteren Weg vorgezogen. Fraglos ist die Gesinnung die Hauptsache; aber die Macht des Geldes über das Gemüt des Menschen ist eine ungeheure.

Richtig ist theoretisch so viel: Eine Entäußerung des Privatbesitzes ist – soweit es nicht unrechtes Gut betrifft – von den Besitzenden nicht zu fordern. Wohl aber sollen sie versuchen, ihn im allgemeinen Interesse zu verwalten und überhaupt Herren, nicht Sklaven ihres Besitzes zu sein. Das wissen eigentlich alle besseren Menschen; sie haben nur nicht den Mut, an die volle Ausführbarkeit einer solchen ökonomischen Lebensansicht zu glauben. Der richtige Sozialismus, der auch mit dem Christentum völlig übereinstimmt, ist der ideelle, freiwillig gewollte (nicht zwangsweise herbeigeführte) Gemeinbesitz, wie ihn schon Aristoteles verlangt. Der gewöhnliche Sozialismus aber streift mit grober Hand die ganze Blüte der sittlichen Gesinnung hinweg. Er will gewaltsam erzwingen, was nur als Frucht einer solchen allgemeinen Einstellung den Menschen wirklich dauernde Hilfe bringen könnte, und zwar sowohl den Nichtbesitzenden wie den Besitzenden – die eben auch nur mit dieser Gesinnung vollkommen rechtmäßig besitzen.

Der Besitz und die Verwaltung eines wirklich großen Vermögens oder eine große Ehren- und Machtstellung führt mit fast absoluter Notwendigkeit zu einer Verhärtung des Gemüts, die gerade das Gegenteil von Glück ist. Man kann beides mit Grauen wahrnehmen, wenn man die gemütsleere Menge betrachtet, die in steigendem Maße jährlich die Berge der Schweiz besucht, um diese Leere wenigstens vorübergehend auszufüllen.

Nicht viel besser als mit diesen »reellsten« Glücksfaktoren steht es mit dem ästhetischen Genuss, der auf eine etwas edlere Herkunft Anspruch erhebt als der bloß materielle. Die Grenze zwischen beiden ist aber nicht ganz leicht zu ziehen, und die ästhetischen Genießer wechseln – wie dies schon Goethe, ihr großes Vorbild, in Dichtung und eigenem Leben bezeugte – zuweilen mit einer anderen Anschauung ab (vgl. Faust). Ja ihre neuere Schule ist auf dem bedenklichen Weg, manches sogar theoretisch für ästhetisch zu erklären, was es im Grunde nicht mehr ist. Dieser Klasse von Glücksmenschen möchten wir nur das eigene Wort ihres Vorbilds (das in der Tat alle Voraussetzungen zu dieser Art von Glück in außerordentlichem, selten vorkommendem Maßstab besaß) in Erinnerung rufen: »Im Grunde ist mein Leben nichts als Mühe und Arbeit gewesen; ich kann wohl sagen, dass ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben sein wollte.«

Also achtundzwanzig Tage Glück in fünfundsiebzig Jahren! Ein solches Armutszeugnis wird kaum ein braver Tagelöhner am Schluss eines Lebens voll wirklicher Mühsal ablegen, das nach der Anschauung eines ästhetisch angelegten Menschen aus nichts als lauter Elend bestand. Aber es besteht eben ein großer Unterschied zwischen der eingebildeten und der wirklichen Genussfähigkeit des Menschen. Die menschliche Natur ist merkwürdig wenig auf Genuss eingerichtet, sondern ganz auf Tätigkeit. Der Genuss, auch der allerhöchste und beste, soll bloß eine sehr mäßig anzuwendende Würze und Abwechslung bilden. Diejenigen, die ihn im Übermaß gebrauchen, täuschen sich bitter. Alles, was dem Menschen wirkliches Vergnügen bereitet, ist ein reelles Bedürfnis seiner Natur, das meist erst durch eine vernünftige Tätigkeit hervorgerufen werden muss und nicht willkürlich herbeigeführt werden kann. Darin liegt auch ein großer Teil der Ausgleichung menschlicher Schicksale begründet, an die unsere heutige Generation viel zu wenig mehr glaubt – während man früher dieses Lob der einfachen und natürlichen Freuden des Lebens vielleicht in sentimentalem Sinne etwas übertrieb.

Überdies ist das ästhetische Niveau unserer ganzen Literatur und Kunst viel zu sehr am Sinken, als dass sie noch lange die wirklich gebildeten Kreise unserer Kulturnationen befriedigen könnte. Man braucht nur die ermüdeten Sommergesichter der Gelehrten, Schriftsteller und Künstler anzusehen, die fortwährend »Erholung« brauchen und auf ihren Erholungsreisen von allem anderen lieber sprechen als von dem, was eigentlich nach ihrer Theorie die höchste Freude ihres Lebens und zugleich das höchste Gut der Menschheit ist. Für diese Kreise wird bald ein Augenblick kommen, in dem sie sich aus dieser ganzen »Blüte« von Wissenschaft, Literatur und Kunst heraussehnen und selbst ein gutes Stück gesunder Barbarei dafür in Kauf nehmen werden. Der österreichische Dichter Rosegger hat darüber folgende, nicht unbegründete Zukunftsphantasie:

Schon heute vollzieht sich alljährlich eine Völkerwanderung von den Städten aufs Land, ins Gebirge. Noch kehren sie, wenn die Blätter gilben, wieder in ihre Mauern zurück; aber es wird eine Zeit sein, da werden die wohlhabenden Stadtleute sich Bauerngründe kaufen und bäuerlich bewirtschaften, Arbeiter sich solche aus der Wildnis roden und reuten. Sie werden auf Vielwisserei verzichten, an körperlicher Arbeit Gefallen und Kräftigung finden; sie werden Gesetze schaffen, unter denen wieder ein selbständiges, ehrenreiches Bauerntum bestehen kann, und das Schlagwort vom »ungebildeten Bauer« wird man nicht mehr hören.

Sicher ist wenigstens so viel, dass uns eine Zeit der Rückkehr zur Natur und des Geschmacks am Einfachen wieder bevorsteht, wie sie zu Ende des vorvorigen Jahrhunderts bestand, als die Königin Marie Antoinette in Trianon mit ihren Hofleuten Schäferin spielte. Die Karikatur davon besteht schon heute in den Herren und Damen, die im Sommer in Lodenröcken und mit nägelbeschlagenen Bergschuhen Versuche mit der natürlichen Lebensauffassung machen und sich der Lebensweise von Bauern und Älplern anschließen. Und in der Tat fühlen sie sich in dieser Verkleidung so glücklich, als es bei ihrem blasierten Wesen überhaupt noch möglich ist.

Ja, selbst die Sorgenlosigkeit ist endlich, genau genommen, nur ein Ideal derer, die sie nie in ihrem Leben gekannt haben. Aus mäßiger Sorge (die nicht eigentlich die Sorge ist) und Befreiung davon besteht ein wesentlicher Teil des menschlichen Glücks. Das Unerträglichste im Leben ist nach den Aussagen mancher Welterfahrener nicht eine Reihe von schlechten, sondern eine von wolkenlosen Tagen.

Innere Wege zum Glück

Sehr viel einsichtiger als die materiell gestimmten Glückssucher handeln jene, welche die »blaue Blume« auf dem Weg der Pflichterfüllung, der Tugend, des guten Gewissens, der Arbeit, der öffentlichen Wirksamkeit, des Patriotismus, der guten Werke, überhaupt der Menschenliebe oder der kirchlichen Denkungsart suchen.

Dennoch beruht gerade ein wesentlicher Teil der pessimistischen Grundstimmung unserer Tage auf der Erfahrung, dass auch auf jedem dieser Wege das Glück leicht verfehlt oder lange nicht in dem erwarteten Maßstab gefunden wird. Vermutlich stammt ein großer Teil des rücksichtslosen »Realismus«, der sich jetzt überall breitmacht, keineswegs aus der Überzeugung, dass man damit glücklich werden könne, sondern bloß aus der Verzweiflung an jedem anderen Weg. Denn wenn weder Arbeit noch sogenannte Tugend den Frieden der Seele herbeiführen können, wenn die öffentliche Wirksamkeit, die guten Werke, der Patriotismus Humbug sind und die Religion größtenteils Formsache, wenn nicht gar bloße Phrase, wenn das also alles auch nur Eitelkeit der Eitelkeiten2 ist, dann »lasset uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.« (1 Kor 15 32)

Ich gedenke, von allem dem nur die Schlussfolgerung zu bestreiten, und bin weit davon entfernt, auch das Gute unserer Zeit zu verkennen. Dieses besteht in einer gewissen betonten Wahrheitsliebe, der alle bloßen Phrasen zuwider sind. Unsere Zeit will das Glück, aber ein objektives Glück, nicht bloß ein gedachtes – ein Glück, das eine greifbare Tatsache ist und von jedem Menschen erlangt werden kann. Und sie hat darin vollkommen recht, gegenüber allen ihren Vorgängerinnen in den letzten zweitausend Jahren der Geschichte. Ich will das auch, und jeder Mensch, der auf den rechten Lebensweg kommen will, muss damit beginnen, alle Götzen rücksichtslos über Bord zu werfen. Jedes Vorurteil, das er durch Geburt, Lebenskreis, Gewohnheit besaß und aufgibt, ist ein Schritt hin zum wahren Glück. Und es ist ganz richtig, was ein sehr wenig Glücklicher unserer Tage (Kaiser Max von Mexiko) gesagt hat: dass dem Aufgeben einer Unwahrheit oder eines Vorurteils irgendeiner Art ein sofortiges Glücksgefühl folge. Das ist auch unser Wegweiser auf diesem dunklen Weg, den wir sonst vielleicht gar nicht finden würden.

Es gibt ein Glück, allein wir kennen‘s nicht;
Wir kennen‘s wohl und wissen‘s nicht zu schätzen.3

Die Tugend ist es nicht; fort zu allererst mit diesem Götzen der Moralisten. Sie wohnt in keinem natürlichen Menschenherz; es braucht eine sehr geringe Vorstellung von der Tugend oder ein sehr beschränktes Gehirn, um mit sich selbst stets zufrieden zu sein. Selbst die eitelsten der Menschen sind es im Grunde nicht; die Eitelkeit ist vielmehr größtenteils eine Unsicherheit des Urteils über den eigenen Wert, das daher der beständigen Bestätigung durch andere bedarf.

Wer mit seiner Tugendhaftigkeit glücklich ist, möge sich gütigst einmal die allereinfachsten Regelwerke der Moral, die Zehn Gebote oder die Bergpredigt, ansehen. Wenn er dann noch, wie jener reiche Jüngling, sagen kann: »dies habe ich alles gehalten von Jugend auf« (Lk 18 21), nun, dann wird es ihm ergehen wie diesem: Es wird eine Forderung an ihn herantreten, der er nicht ausweichen kann und die ihn gründlich zuschanden macht.

Das gute Gewissen des allzeit Pflichtgetreuen soll dem Sprichwort nach ein sanftes Ruhekissen sein. Ich wünsche dem Glück, der es besitzt, kenne diesen Menschen aber bisher nicht. Es gibt nach meiner Meinung niemanden, der jemals auch nur einen einzigen Tag lang seine ganze Pflicht erfüllt hat. Darüber rede ich nicht ein Wort weiter. Wenn einer meiner Leser sagt: Doch, ich bin derjenige, so mag er es sein; seine nähere Bekanntschaft suche ich aber nicht.

Je mehr ein Mensch in der Pflichterfüllung fortschreitet, desto feiner werden der Sinn und die Unterscheidungsgabe dafür. Ja, auch der Kreis der Pflichten selbst erweitert sich für ihn objektiv dermaßen, dass wir den Apostel Paulus ganz begreifen, wenn er von sich selbst – sicherlich ganz aufrichtig und ohne falsche Demut – als dem größten der Sünder spricht.

Ein gutes Gewissen ist schon etwas wert, ich unterschätze es nicht, aber eigentlich doch bloß negativ, im Sinne von Abwesenheit eines schlechten Gewissens. Sobald es zu einem positiven Selbstbewusstsein wird, schadet es dem Menschen, der es besitzt, da es ihn zur Selbstgerechtigkeit verleitet.

Die Liebe und was damit an sogenannten guten Werken öffentlicher und privater Natur zusammenhängt, ja, das ist ein herrliches Wort, und wir begreifen den Apostel auch, wenn er in der berühmtesten Stelle seiner Briefe (1 Kor 13) sie das A und das O alles wahren Lebens nennt. Aber wenn er es zugleich für möglich hält, mit Engelszungen zu reden, alle seine Habe den Armen zu geben und sich sogar für die Menschheit verbrennen zu lassen, ohne Liebe zu haben, dann zeigt dies besser als jedes weitere Wort, was die Liebe ist: Sie ist ein Stück göttlichen Wesens, das in keines Menschen Herz wächst. Wer sie hat, wird genau wissen, dass sie nicht sein Eigentum ist. Ihr blasses menschliches Abbild gewährt wohl Glück, jedoch bloß zeitweilig und immer unter der sehr prekären Voraussetzung der Gegenliebe, die von dem Willen anderer abhängig ist. Und wer sein ganzes Herz und Vertrauen auf sie setzt, dem kann es leicht begegnen, dass er die furchtbaren Worte des jüdischen Propheten (Jer 17 5) eines Tages im innersten Herzensgrund vernimmt und von der Liebe zum Hass übergeht. Die Verherrlichung des Hasses, die wir heute aus dem Mund großer Klassen vernehmen, ist nur die Frucht der bitteren Erfahrungen mit der Liebe, die Millionen alltäglich machen.

Die Arbeit ist ein großer Faktor des menschlichen Glücks, ja sogar der größte in dem Sinn, dass dem Menschen das wirkliche Glücksgefühl, das nicht bloß ein Rausch ist, ohne Arbeit absolut versagt ist. Er muss »sechs Tage arbeiten«, um glücklich sein zu können, und im »Schweiße seines Angesichts sein Brot essen«. Diejenigen sind die größten Toren von allen Glückssuchern, die diesen zwei Voraussetzungen des Erfolges ausweichen. Schon das Alte Testament sagt, es sei nichts Besseres für den Menschen auf Erden zu finden, »als dass er fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil« (Pred 3 22).

Ohne Arbeit gibt es wirklich kein Glück in der Welt. Negativ gefasst ist der Satz vollkommen richtig. Dennoch ist es ein weiterer Irrtum, dass die Arbeit das Glück sei oder dass jede Arbeit zum Glücksgefühl führe. Nicht allein kennt die menschliche Fantasie ein anderes Ideal (es wird sich wohl niemand einen Himmel oder ein irdisches Paradies voll beständiger Arbeit vorstellen können), sondern, was noch mehr ist: Es braucht auch einen törichten Menschen, der mit seiner Arbeit zufrieden ist. Ja, man wird wohl sagen dürfen, dass die weisesten der Menschen die Mangelhaftigkeit aller ihrer Werke am besten einsehen, und dass es keinen je gegeben hat, der am Ende seines Tagewerks sagen konnte: »Und siehe, es war alles gut!« Hinter dem lauten Lobpreis der Arbeit steckt daher meist etwas wie ein Sporn oder eine Peitsche, die sich und andere dazu antreiben muss. Und diejenigen, die sich mit dem größten Stolz »Arbeiter« nennen, sind im Grund alle darauf bedacht, die tägliche Arbeitszeit möglichst zu verringern. Wäre die Arbeit an und für sich gleichbedeutend mit Glück, so würden sie diese so weit wie möglich zu verlängern suchen.

Die seltsamsten der Glückssucher sind wohl jene, die es im Pessimismus suchen, doch gibt es davon nicht wenige, und oft sind es nicht die unedelsten Naturen. Meistens ist aber ein gewisser Größenwahn damit verbunden: Es klingt großartig, alles über Bord geworfen zu haben und alles, sich selbst eingeschlossen, für schlecht zu erklären. Von den Schlechten ist wenigstens der, der es einsieht und bekennt, in der Tat der beste. Und wenn er wirklich aufrichtig damit zufrieden ist, dass man ihn für schlecht hält, so mag er auf dem richtigen Durchgangsweg zu etwas Besserem sein. Als dauernder Zustand ist der Pessimismus aber meist nur der zerrissene Philosophenmantel, durch dessen Löcher die menschliche Eitelkeit hervorblickt. Und ohne beständige Nahrung für dieses gefräßige Ungeheuer ist er weit entfernt vom Ziel.

Am unglücklichsten von allen sind die Menschen, die das Glück in der bloßen Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis suchen und sich darin zuletzt bitter getäuscht empfinden. Davon gibt es heute viele, denn alle kirchlichen Genossenschaften haben den Hang, mehr zu versprechen, als sie halten können. Sie erinnern an Netze, die Fische von allerlei Gattung fangen. Heinrich Gelzer4 sagt an einer Stelle seiner Werke, der Gottesdienst der meisten kirchlichen Leute sei nur ein Hofdienst, mit dem sie sich einmal in der Woche der höchsten Gewogenheit empfehlen wollen. Einen gleichen Hofdienst gebe es auch gegenüber der Menschheit, indem man ihr bisweilen Dienste erweist (ein gutes Werk an ihr tut, wie man sich ausdrückt), auch nur, um in der übrigen Zeit seine Eigenliebe um so gemächlicher zu pflegen.

Ich will der reichen Erfahrung dieses ausgezeichneten Mannes gerade auf diesem Gebiet nicht widersprechen, obwohl ich meinerseits glaube, dass Gott einen Menschen nicht fallen lässt, solange dieser ihm in irgendeiner noch so »verworrenen« Weise dient und sich wenigstens irgendwie an ihn hält. Selbst die armseligsten oder mit Unlauterkeit aller Art umgebenen Versuche von Religion bringen den Menschen, die ihr mit einer gewissen, wenn auch nur zeitweiligen Aufrichtigkeit anhängen, noch mehr Glück als der geistreichste Atheismus.

Aber dieses Privileg der Einfältigen, die »unter göttlicher Geduld wandeln«, dehnt sich doch nicht ganz auf die aus, die einer bessern Einsicht fähig sind. Diese wären verpflichtet, besonders die christliche Religion von der Halbheit befreien zu helfen, an der sie schon seit zweitausend Jahren kränkelt. Sie sollten sich nicht mit kirchlichen Formen und Formeln oder gar mit einer »Wissenschaft« der Religion zufriedenzugeben, die noch niemanden glücklich gemacht hat und die dem Volk, das sie nicht versteht, Steine statt Brot bietet.

Solange dies der Fall ist, ist auch dieser Weg zum Glück reich an Täuschungen. Man wagt in der Regel nicht, diese Täuschungen sich selbst oder anderen einzugestehen, weil von dem Punkt kein Pfad mehr zu Frieden und Glück zurückführt. Aber dadurch wird die Sache auch nicht leichter.

Das sind, von ein paar wenig bedeutenden Abwandlungen und Kombinationen abgesehen, die Wege, auf denen die Menschen das Glück gesucht haben, solange ihre Geschichte besteht. Und würden wir sie nicht aus der Geschichte kennen, so würde die eigene Lebenserfahrung sie uns allen mehr oder weniger zeigen. Gefunden aber haben die Menschen das Glück auf diesen Wegen nicht.

Bedingungen des Glücks

Die erste und unumgänglichste Bedingung des Glücks ist der feste Glaube an eine sittliche Weltordnung. Ohne eine solche Ordnung würde die Welt vom Zufall oder von der List und Gewalt der Menschen regiert, oder von einem unerbittlichen, in seinem Verfahren gegen den Schwachen sogar grausamen Naturgesetz. Dies ist die jetzt sehr verbreitete Ansicht der Anhänger Darwins, die, ins Sittliche übersetzt, lautet: Der Starke hat immer recht; Macht ist Recht, und es gibt kein anderes Recht. Unter diesen Umständen kann von Glück für den Einzelnen nicht mehr die Rede sein. Es bleibt ihm in einer solchen Weltordnung nichts übrig, als Gewalt zu tun oder Gewalt zu leiden, Hammer oder Amboss zu sein. Und welches der elendere, eines edlen Menschen unwürdigere Zustand sei, wäre kaum zu sagen.

Im Verkehr der Völker ist der beständige Krieg oder seine Vorbereitung die Folge dieser Lebensauffassung, und das Lehrbuch der Politik ist »Der Fürst« von Macchiavelli. Die einzig mögliche, halbe Erlösung läge dann in einem durch eiserne Gewalt beherrschten Weltstaat, der alle sogenannten zivilisierten Völker umfasst und dadurch wenigstens den Krieg unter ihnen unmöglich macht, ähnlich wie es das Römische Reich der Kaiserzeit oder die leitende Idee Napoleons des Ersten war. Ohne Zweifel gibt es auch heute Leute an hohen Orten, denen diese letzte Ausgestaltung alles Staats- und Völkerrechts auch gegenwärtig wieder vorschwebt; wir hoffen aber, der »Herr lache ihrer« und verschaffe den schwer belasteten Völkern auf andere Weise Rettung.

Die Geschichte verkündet von Zeit zu Zeit immer wieder in deutlichen Schriftzeichen die Nichtigkeit und Torheit dieser Lebensanschauung, die den Menschen persönlich zur Tiergattung und politisch zum »Untertan« degradiert. Doch auch ohne dies müsste jeder höher gesinnte Mensch die Wahrheit einer solchen Anschauung schon auf den bloßen Protest in seinem innersten Gefühl hin abweisen. Denen, die trotzdem daran festhalten, weil ihnen die sittliche Weltordnung nicht hinreichend bewiesen erscheint, können wir nur noch sagen, was auf der Eingangspforte der Dante’schen Hölle steht:

Durch mich geht’s ein zur Stadt der Qual-Erkor’nen,
Durch mich geht’s ein zum ew’gen Weheschlund,
Durch mich geht’s ein zum Volke der Verlornen.
Das Recht war meines hohen Schöpfers Grund;
Die Allmacht wollt’ in mir sich offenbaren;
Allweisheit ward und erste Liebe kund.

Eine Dogmatisierung der sittlichen Weltordnung ist dagegen unmöglich. Gott schauen kann der Mensch schon nach der Ansicht des Altertums nicht (2 Mos 33 20, Ri 13 22), und alle näheren Auseinandersetzungen dieser Art weist auch das Christentum ganz entschieden zurück. Der einzige Weg, der offenbleibt, ist der in der Bergpredigt (Mt 5 8) angegebene. Den kann jeder versuchen, wenn er dazu den Mut in sich spürt; von anderen aber, die bloß wissen wollen, lässt sich das Göttliche seinen Schleier niemals mit Gewalt entreißen. »Theologie« im eigentlichen Sinn des Wortes ist nach meinem Dafürhalten unmöglich (Mt 11 27). Für sich persönlich braucht der Mensch einen beständig offenen Zugang zum Göttlichen, und er darf vor allem keine anderen Götter neben dem wahren Gott haben. Dann kann er sich im weiteren ganz ruhig an das Prophetenwort Mi 6 8 halten und damit begnügen.

Von da ab ist der Weg zum Glück offen, die Tür ist geöffnet, und »niemand kann sie mehr schließen« (Offb 3 8). Im Innersten des Herzens befinden sich fortan ein fester Punkt und eine beständige Ruhe und Zuversicht, die auch in äußeren Stürmen stets mehr oder weniger und in immer zunehmendem Grade bestehen bleiben. Das Herz selbst, das früher trotzig oder verzagt war, ist fest geworden. Fortan muss sich der Mensch nur noch hüten, auf die verschiedenen Gefühle und Ereignisse des Tages ein erhebliches Gewicht zu legen, vielmehr versuchen, in einer festen Gesinnung mit Entschiedenheit zu leben und überhaupt nicht in Gefühlen, sondern in Tätigkeit seine tägliche Portion von Glücksbewusstsein zu suchen.

Damit erst kommt die richtige Arbeit, die kein Götze mehr ist, dem man mit beständiger Herzensangst dient oder in dem man sich selbst anbetet (Hos 14 4), sondern das natürlichste und gesündeste Leben des Menschen. Dieses Leben befreit ihn mit einem Schlag nicht allein von den vielen innerlichen Schäden des Müßiggangs, sondern auch von unzähligen körperlichen Übeln, die im Müßiggang ihre Quelle haben. Die beständige Arbeitshetze, der heute selbst die Großen der Erde unterliegen und die das wahre Unglück der Zeit ist, hört damit ebenfalls in ihren Ursachen auf.

Diese fröhliche Arbeit ist das Gesündeste, was es gibt, davon »grünen die Gebein«. Der richtige Schweiß auf der Stirn ist das Geheimnis der beständigen, sich stets erneuernden Kraft und Munterheit des Geistes, die zusammen eigentlich das Glücksgefühl ausmachen. Die Gesundheit selber besteht ja, wie man aus den neueren Forschungen der medizinischen Wissenschaft erfährt, eigentlich nur aus einem höheren Grad von Widerstandsfähigkeit gegen unvermeidliche Feinde. Diese Widerstandsfähigkeit ist aber – das wird auch noch klar werden – keine rein physische, sondern ebenso sehr eine moralische Eigenschaft oder von moralischen Eigenschaften beeinflusst.

Übrigens geschieht die Ausführung der sittlichen Weltordnung auf Erden in erster Linie durch einzelne Menschen und Familien, nicht durch Genossenschaften. Jeder Einzelne hat darin seinen Platz und muss ihn ausfüllen. Das gestattet kein müßiges Gefühlsleben. Auffallend ist, wie in allen wahrhaft poetischen Schilderungen von Engeln diese ein tätiges, rasch entschlossenes, kurz angebundenes, durchaus nicht sentimentales oder redseliges Wesen haben, zum Beispiel in Apg 12 7–10, 1 Kön 19 5–7, Inferno IX 101–102, Purgatorio II 49–51. Die musizierenden Engel, die auf Rosenwölklein herumsitzen, sind Ausgeburten einer ganz korrupten künstlerischen Fantasie. Es wird wohl kaum im Himmel so viel musiziert werden wie auf Erden.

Dies sind also die beiden Hauptsachen, die innerlich untrennbar sind: in der Zuversicht leben, dass eine sittliche Weltordnung besteht, und in dieser Weltordnung arbeiten. Außer diesen und einem dritten Punkt, der weiter unten folgt, ist alles andere nebensächlich und gibt sich bei jedem Menschen ganz von selbst, wenn es ihm nur rechter Ernst ist mit den beiden Punkten.

Einige wenige Erfahrungssätze, die nicht auf alle, aber doch auf den größeren Teil der Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensbedürfnissen zutreffen mögen, sind folgende:

Wir brauchen im Leben stets Mut und Demut vereinigt. Das ist der Sinn des sonderbaren Wortes des Apostels: »Wenn ich schwach bin, bin ich stark« (2 Kor 12 10). Eines allein wirkt ungünstig auf die Menschen.

Die Freuden muss man nicht suchen; sie geben sich in einem richtigen Leben ganz von selbst; die einfachen, wenig kostspieligen, auf wirklichen Bedürfnissen beruhenden sind die besten.

Der Mensch kann alles ertragen, außer zwei Dingen: Sünde und Sorge. Auch selbst die gewöhnliche »Sorge für den morgigen Tag« ist schwer zu ertragen, weil unsere Kraft immer nur für heute vorhanden ist. Die Fantasie sieht die morgige Arbeit, aber nicht die morgige Kraft.

Alles wahrhaft Gute fängt klein an. Nichts Gutes zeigt sein bestes Gesicht gleich zuerst, und alle Wege, durch die der richtig geleitete Mensch gehen soll, führen durch offene Türen. Die ganze »Streberei« ist unnötig für einen Menschen, der auf dem »Weg des Lebens« geht. Jes 35 8, Ps 37, Ps 128, Ps 23.

Der Umgang mit Menschen hat auch für die gereiftesten Leute immer noch einige Schwierigkeiten und Bedenken. Niemals muss man sie hassen, niemals sie zu seinen Göttern machen oder in ihren Meinungen, Anforderungen und Urteilen zu wichtig nehmen, sie nicht richten und sich von ihnen nicht richten lassen, keinen Umgang suchen mit den Überheblichen unter ihnen (wozu im allgemeinen die Hohen, Vornehmen und Reichen zählen), sondern sie lieber vermeiden, ohne jedoch abstoßend zu sein. Die Freude an den kleinen Dingen und so auch an den kleinen Leuten jeder Art gehört zu den besten Freuden, und immer eher abwärts sehen schützt vor vielen Bitternissen der Empfindung. Das beste Mittel, mit der Welt stets zufrieden zu sein, ist, von ihr nicht viel zu erwarten, sie niemals zu fürchten, auch in ihr (allerdings ohne Selbsttäuschung) das Gute zu sehen und das Böse als etwas Unkräftiges, nicht Andauerndes zu betrachten, das sich binnen Kurzem selbst vernichtet.

Überhaupt möchte man schließlich sagen: Man darf das ganze irdische Wesen nicht allzu wichtig nehmen. Vieles davon kommt uns sofort gleichgültig vor, sobald wir »mit dem Kopf im Himmel« leben, und wenn die Hauptsache gut läuft, muss man auf das Nebensächliche kein großes Gewicht legen. Mit diesem Wichtignehmen von Kleinigkeiten und namentlich von Menschen und ihren Urteilen plagen sich viele der besten Leute ab und gestalten dadurch ihr Tagewerk zu einem viel mühseligeren, als es sonst sein könnte.

Solche sogenannten »Lebensregeln« ließen sich noch beliebig vermehren. Sie sind aber, wie schon gesagt, eigentlich überflüssig, da sie auf dem oben genannten Boden ganz von selber, und zwar nach den individuellen Bedürfnissen eines jeden, wachsen. Ohne diesen Boden aber sind sie unausführbar.

Ich halte von der ganzen sogenannten »Moral« und all ihren guten Werken überhaupt nicht viel. Entweder ist sie der selbstverständliche Ausfluss einer gewissen Gesinnung, die wiederum das Ergebnis einer gewissen Lebensanschauung ist, zu der der Mensch (oft durch einen wahren Tod) vor allen Dingen vordringen muss. Oder es sind schöne Aussprüche, die zwar ins Ohr fallen, sich auch in Tagebüchern oder Losungszetteln gut ausnehmen, aber das Herz des Menschen nicht ändern.

Unglück

Statt dieses Material für Sprüchesammler zu vermehren, wollen wir dem Leser lieber noch eine andere große Wahrheit sagen, die darin besteht, dass Unglück notwendig zum menschlichen Leben, ja, wenn man etwas paradox reden will, dass Unglück zum Glück gehört. Einerseits ist Unglück, wie die tatsächliche Lebenserfahrung zeigt, unausweichlich, und man muss sich schon deshalb mit ihm irgendwie abfinden. Erreichbar ist im menschlichen Dasein bloß das volle Einverständnis mit seinem Schicksal, jener innere stete, weltüberwindende Friede, der wie ein Wasserstrom ist (Jes 66 12), den allein auch Christus seinen Nachfolgern verspricht (Joh 14 27, Mt 11 28–29) und von dem der Apostel Paulus an seinem äußerlich harten Lebensende mit so tiefer Empfindung redet.

Gleichgültig also kann das äußere Ergehen für die wirkliche Glücksempfindung wohl bis zu einem hohen Grad werden, und zwar nicht bloß durch einen »Verweis auf den Himmel«, der, wie ich völlig zugebe, nicht genügt. Vielmehr geht es um ein reelles Glücksempfinden auf Erden, wie es die »Realisten« mit ihren Mitteln nicht herstellen können. Und wenn meine Mittel »Fantasie« sind, dann sind sie wenigstens eine Fantasie, welche die Kraft besitzt, glücklich zu machen. Dass aber etwas, das eine Kraft ist, nicht »reell« sein sollte und stattdessen reell, was keine Kraft gibt, ist kaum anzunehmen. Für mich ist die Wirkung der Beweis der Ursache.

Aber Leiden, Unglück muss der Mensch auf Erden haben, und mit denen muss er sich zurechtfinden. Auch hier hilft zunächst Nachdenken und, die feste Gesinnung über die augenblicklichen Gefühle zu stellen. Das Unglück hat drei Zwecke, die zugleich Stufen sind: Erstens Strafe, natürliche Konsequenz der Taten, die ihnen selbst innewohnt, daher ihnen folgen muss, so sicher, wie eben eine logische Konsequenz logisch ist. Zweitens Läuterung durch Erwecken eines größeren Ernstes und einer größerer Empfänglichkeit für die Wahrheit. Drittens Selbstprüfung und Stärkung durch Erfahrung der eigenen und der Gotteskraft, denn nur durch diese Erfahrung entsteht allmählich der rechte Mut im Menschen, der von Übermut weit entfernt und mit der Demut nahe verwandt ist. Als vierten Zweck kann man noch dazuzählen: die Erweckung des Mitgefühls für andere Leidende. In diesem Sinne sagt die Dichterin Amalie von Helvig5:

Unglück selber taugt nicht viel;
Aber ’s hat drei brave Kinder:
Kraft, Geduld und Mitgefühl.

Ich glaube, dass die Frau, die so brave Kinder hat, selbst brav sein muss.

Mit einem Wort: Nur durch würdig ertragenes Unglück kommt Vertiefung zustande und jene eigentümliche größere Art, die uns an manchen Menschen sofort auffällt und die sich niemand geben kann, auch wenn er »seinen Fuß auf ellenhohe Socken stellt«.

Die Menschen, die sogenanntes beständiges Glück haben, haben dagegen immer etwas Kleinliches, Mittelmäßiges an sich, das sich sogar schon in ihren Gesichtszügen verrät, wenn sie älter werden. Und was noch ein bedeutenderer Ausgleich ist: Sie leben in einer beständigen Furcht vor dem Verlust dieses Talismans (vgl. Hiob 3 25), während die an Unglück Gewöhnten zuletzt eine großartige Ruhe bekommen, die den Leiden frisch ins Angesicht blickt und sie, wenn das nicht Übermut wäre, oft beinahe herbeiwünscht (Jer 17 8). Ein schönes Gedicht darüber ist das biblische Buch Hiob, die großartigste Schilderung aber das 11. Kapitel des Hebräerbriefes (Hebr 11). Allerdings gehört dazu die Grundstimmung der Seele, die an sich selbst schon ein beständiges Glück ist, sonst machen andauernde Leiden hart. Mitunter scheinen auch sogar edle, aber vielgeprüfte Leute härter, als sie sind. Sie haben die Fähigkeit verloren, sich dem Glücksgefühl zu öffnen.

Das Wort des Apostels Paulus: »Wir rühmen uns der Trübsal« (Röm 5 3) ist wie manche seiner Aussprüche in seinem eigentlichen Sinn jedem völlig unverständlich, der nicht selber erfahren hat, was für eine Kraft und ein tiefinnerliches Glück im Unglück steckt, ein Glück, das der Mensch nie mehr vergisst, wenn er es einmal im Leben recht empfunden hat. Auch die festen menschlichen Bande schließen sich im Unglück. Wenn man mit einem Menschen etwas gemeinsam getragen und sich gegenseitig darin bewährt hat, das gibt wahre Freundschaften, die alles aushalten und ein wirklicher Schatz sein können.

Das ist des Lebens Rätsel, das viele stößt und vom rechten Weg abwendet: dass es den Guten in der Welt nicht so gut geht, wie sie es für gerecht ansehen würden.

Die Zeugen Christi, die vordem
Des Glaubens Helden waren,
Hat man in Armut wandeln sehn,
In Trübsal und Gefahren,
Und der die Welt nicht würdig war,
Die sind im Elend gangen,
Den Fürsten dieser ganzen Schar
Hat man ans Kreuz gehangen.

Ja, so ist es, und das, lieber Leser, musst du sogar richtig finden und dich selbst darauf gefasst machen, sonst ist für dich das Glück im Leben nicht zu finden. Das ist »der Löwe, der im Wege liegt«, bei dessen Anblick die meisten Leute umkehren und sich lieber mit etwas Geringerem als Glück begnügen.

Man kann aber aus Erfahrung sagen, dass auch hier, wie beim Genuss, die menschliche Fantasie der Wirklichkeit weit vorauseilt, so dass ein Schmerz selten so groß ist, wie sie ihn ausmalt. Daher sagt Spurgeon, man solle sich angewöhnen, nie mit sich selbst zu sprechen, sondern nur mit Gott. Es ist auch jedem Leidenden bekannt, dass im Augenblick des größten Leidens oft eine wohltätige Dunkelheit der Empfindung eintritt, die darüber hinweghilft, ja dass sogar ein zweites Unglück das erste erträglicher macht.

Und ein zweiter Erfahrungssatz lautet, dass Schmerzen die »Eintrittspforten zu jedem großen Glück« sind. Die modernen Schmerzmittel sind daher auf Dauer schädlich, während der geistige Kampf mit dem Schmerz den Menschen tüchtiger, kräftiger, geistig und vielleicht sogar körperlich gesünder macht. Diese Seite der Medizin wird in Zukunft wieder mehr betont werden, wenn einmal der materialistische Zug, der diese Wissenschaft jetzt erfüllt, gewichen ist und der Arzt wieder an etwas wie eine »Seele« im Menschen glaubt, die auch zur Genesung mithelfen muss.

Eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, die zu sich sagen kann: Du musst, ob du willst oder nicht, gehört eben zum wahren Leben. Liebe zum Wahren und Mut zum Rechten sind die Grundsäulen jeder wahren Erziehung, ohne die sie nichts taugt. Ja selbst zum Himmelreich braucht es Gewalt, »und die Gewalt anwenden, die kommen hinein« (Mt 11 12).

Mut, das ist ganz sicher, gehört am notwendigsten von allen menschlichen Eigenschaften zum Glück.

So sehen wir denn als Endergebnis, was eine originelle Frau unserer Zeit6 in einem nach ihrem Tode veröffentlichten Werke mit den Worten ausgesprochen hat: »Das Glück ist göttliche Gemeinschaft, die Kraft dazu, der Mut, der Seele Klang«. Ein anderes gibt es nicht auf dieser Erde, und wenn es eines gäbe ohne diese Zeichen, wir wollten es uns nicht wünschen.

Erwacht aus der Selbstsucht,
Das Ewige erfassend,
Von Liebe geleitet,
Das Irdische als Mittel begriffen und beherrscht.
Das ist der allein hier mögliche Zustand des Glücks.

(frei nach Gelzer7)

Und dieses Glück ist eine Realität, eine Tatsache, nicht bloß ein Fantasiegebilde wie jeder andere Traum vom Glück, aus dem die Menschen, spätestens wenn sie alt werden, erwachen müssen.

Es besteht auch nicht in etwas, das wir fortwährend selber leisten und tun, wozu wir uns beständig aufraffen und zwingen müssen. Wenn wir uns einmal ergeben haben und die Hand fest an diese Weltanschauung gelegt haben, ohne mehr umzuschauen nach anderem, dann ist das Glück etwas, das uns geschieht, ein Strom von innerem Frieden, der mit zunehmendem Alter immer stärker wird und sich zuletzt auch auf andere ergießen kann, nachdem er unseren eigenen Geist befruchtet hat.

Objektiv genommen kann man auch sagen: Glück ist dieser beständige Friede, der von äußeren Schicksalen nicht mehr abhängig ist, sondern diese völlig überwunden hat (Joh 10 11, Mt 6 29, Purgatorio 27 115–142, Hebr 4 9). Das ist der Sinn des sonst dunklen Wortes: »Nicht Glück suche ich, sondern Seligkeit.« Dann kann auch das wirklich eintreten, was ein Schriftsteller als das praktische Merkmal des Glücks angibt, dass man sich abends beim Schlafengehen darauf freuen könne, morgens wieder zu erwachen.

Zu diesem Ziel müssen wir gelangen, wenn unser Leben einen Wert gehabt haben soll, und dazu können wir gelangen. Ja, wir werden, wenn einmal der Entschluss gefasst ist und die ersten Stufen überwunden sind, nach Dantes Wort »Wonne im Steigen selber finden« (Purgatorio 4, 88–93).

Unten am Eingang des »Berges der Läuterung« werden von dem Menschen der feste Entschluss und die unumwundene Erklärung verlangt, für das wahre Glück jeden Preis zu zahlen, der gefordert werden möge. Ohne das findet kein Einlass statt. Thomas a Kempis drückt dies mit den Worten aus: »Lass alles, so findest du alles.« Ein derartiger Entschluss wird in allen Büchern, die von so etwas sprechen, gefordert. Der Preis selbst wird erst später und allmählich in Raten bezahlt; gleich anfangs würde ihn kein Mensch ganz bezahlen können.

Auf einem bequemeren Weg ist noch nie jemand zum Glück gelangt. Das darf keiner behaupten am Ende des Lebens, wenn man ihn auf das Gewissen fragt – so wenig wie Goethe, der Meister derer, die auf anderem Weg das Glück suchten, mehr als vier Wochen Behagen in fünfundsiebzig Lebensjahren Mühsal fand.

Wir aber sagen in Abwandlung von Ps 90 10 (wenn dessen gewöhnliche Übersetzung überhaupt richtig ist): Unser Leben währt siebzig und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es auch Mühe und Arbeit gewesen ist, so ist es dennoch köstlich gewesen.

Das ist Glück!


  1. Gemeint ist hier Dante, der Schöpfer der »Göttlichen Komödie«, aus der die nachfolgenden Zitate stammen. 

  2. Das Wort »Eitelkeit« ist hier im (heute kaum mehr gebräuchlichen) Sinne von Nichtigkeit, Vergeblichkeit zu verstehen. Die Wendung »Eitelkeit der Eitelkeiten« findet sich in der Textbibel von 1899 im 1. Kapitel des Predigers

  3. Johann Wolfgang von Goethe: »Torquato Tasso«, 3. Akt, 2. Auftritt 

  4. Heinrich Gelzer, 1847–1906, Schweizer Altphilologe und Historiker, siehe Wikipedia-Artikel 

  5. Anna Amalie von Helvig, geborene Freiin von Imhoff, 1776–1831 

  6. Gisela Grimm geb. von Arnim in ihrem Drama »Alt-Schottland 

  7. vermutlich Johann Heinrich Gelzer, 1813–1889