Willst Du gesund werden?

(Joh 5 6)

Es ist vielleicht ein Fehler in unserer religiösen Erziehung, dass sie den Menschen allzu sehr den Mut und die Hoffnung nimmt, schon diesseits des Grabes ein Leben zu finden ganz so, wie es sein soll und sein kann, und dass sie dafür auf ein Jenseits verweist, von dem wir aus den Evangelien als der einzig zuverlässigen Quelle eigentlich bloß wissen, dass es besteht, keineswegs aber, wie es aussieht.

Das Alte Testament redet zuweilen deutlich von einem »Land der Vermählung« (Jes 62 3–5), in das schon auf Erden zu gelangen unsere Aufgabe sei, und zwar eine mögliche Aufgabe. Und auch Dante hat die letzten Gesänge des Purgatorio einer wunderschönen Schilderung dieses »irdischen Paradieses« gewidmet, die anschaulicher ist als seine etwas undeutliche Beschreibung des Himmelsdaseins. Dennoch sind fast alle heutigen Menschen weit davon entfernt anzunehmen, dass zum Ende des irdischen Lebens hin Glück und Freudigkeit zu- statt abnehmen könnten. Der Unterschied zwischen den Menschen besteht lediglich darin, dass die einen sich mit mehr oder weniger Resignation in diesen unvermeidlich traurigen Abschluss allen Daseins ergeben, während die anderen hoffen, durch den Tod aus dem tiefsten Grade des Verfalls zur höchsten Stufe des Lebens überzuspringen.

I.

Was der israelitische Prophet mit seinem »Land der Vermählung« gemeint hat, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich soll es einen Zustand der Seele bezeichnen, in dem sie dem Willen nach gänzlich eins geworden ist mit Gott und in dem ihr bewusst ist, dass jeder eigene, innere Widerstand fehlt. Der äußere Widerstand, der noch in den Verhältnissen begründet sein mag, betrübt sie nicht und kommt nicht in Betracht, weil eine stets bereite Hilfe dagegen vorhanden ist.

Joh 15 7    Mk 11 24    Mt 7 7    1 Sam 7 3    Jos 1 5–9    Jos 21 44–45    Jos 23 8–14    Jos 24 19–20    2 Chr 9 6    Jes 65 24

Die Frage lautet nur, ob der freigewordene Mensch diese Hilfe auch in Anspruch nehmen will, sei es aus den allein für ihn noch maßgebenden höheren Gründen oder im Interesse anderer.

Lk 24 26    Mt 24 53–54

Es kommt vielleicht eine Zeit, in der die zivilisierte Menschheit, die äußerlich dem Christentum angehört, auch diese christlichen Verheißungen wieder als etwas Tatsächliches ansieht, weil sich nichts anderes mehr als hilfreich erweist. Jetzt ist dies kaum noch der Fall.

Denn auf irgendetwas muss sich der Mensch verlassen können in diesem sonst allen Zufällen preisgegebenen Leben. Und wenn es nicht eine sichere Hilfe dieser Art gibt, so wird es die eigene Macht und Klugheit sein müssen, das System eines »berechtigten Egoismus«, dessen Grenzen schwer festzustellen sind und aus dem gerade all die Übel entstanden sind, die uns bedrohen.

Die »Reiche dieser Welt« werden sich kaum jemals selbst zerstören wollen, und in ihnen Friede und Freude für alle oder auch nur für die Mehrzahl der Menschen zu finden, ist trotz aller fortschreitenden »Kultur« eine Illusion, die nur wenige noch haben.

Was diese Kultur im höchsten und besten Fall hervorbringt, ist eine Philosophie der möglichst wohlwollenden Weltklugheit (in der Weise von Spencer, Ruskin, Emerson, Carlyle oder Goethe), nach der jetzt die Besseren unter den gebildeten Menschen zu leben versuchen. Sie ist annähernd durchführbar, sofern sie von glücklichen und geordneten äußeren Verhältnissen getragen ist, sonst aber in starker Gefahr, irgendwann in Pessimismus und Absonderung von den Menschen umzuschlagen. Sie endet ganz regelmäßig in Resignation, nicht in Freudigkeit, und selbst wo sie die Wahrheit sagt, ist es eine Wahrheit niederen Grades, die durch eine höhere widerlegt wird.

Das ist der gewöhnliche Lebenslauf der Begabtesten und Glücklichsten unter den heutigen Gebildeten. Den Abschluss bildet im besten Fall das skeptische »plaudite amici« (»Applaudiert, Freunde«), mit dem der unumschränkte Herr der alten Kulturwelt, der erfolgreiche Kaiser Augusts, aus dem Leben schied, oder ein in seiner Wehmut rührendes Liedchen, mit dem der römische Kaiser Hadrian von der eigenen Seele Abschied nimmt:

Unruhiges, zärtliches, zerfahrenes Seelchen, des Leibes Wirt und Genosse, du gehst nun hinüber in farblos starre, öde Regionen, wo keine gewohnte Heiterkeit für dich mehr zu finden sein wird.«

So denken heute die meisten klassisch gebildeten Leute – ohne wirkliche Hoffnung, weder auf ein reifes, freudiges Alter noch auf ein künftiges, besseres Leben. Diese Erfahrung hat jeder Denkende und Beobachtende in seiner Umgebung schon gemacht.

Der andere mögliche Lebenslauf ist der in Gottes »Führung«, für den das Buch Jesajas zahlreiche Verheißungen enthält:

Ja, ich will euch tragen bis in das Alter, bis ihr grau seid; ich will es tun; ich will heben, tragen, helfen und erretten.

Er wird mich erhalten bei meiner Kraft; er wird mir Frieden schaffen.

Deine Ohren werden hören hinter dir das Wort sagen, dies ist der Weg, denselben gehe, weder zur Rechten noch zur Linken.

Mein Volk wird in Häusern des Friedens wohnen, in sicheren Festen, in stolzer Ruhe.

Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Die Knaben werden müde, und die Jünglinge fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie die Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Sie sollen alle zu Spott und Schanden werden, die dir gram sind; sie sollen werden als nichts, und die Leute, die mit dir hadern, sollen umkommen. Du aber wirst fröhlich sein im Herzen und dich rühmen des Heiligen in Israel.

Gedenket nicht an das Alte; achtet nicht auf das Vorige; denn ich will ein Neues machen; jetzt soll es aufwachsen, und ihr werdet es erfahren, dass ich Weg in Wüsten mache und Wasserströme in Einöden.

Ich rufe einen Adler vom Morgen her und einen Mann, der meinen Anschlag ausführen muss, aus fernen Landen; was ich sage, das lasse ich kommen; was ich denke, das tue ich auch.

Siehe, ich nehme den Taumelkelch von deiner Hand, samt den Hefen des Kelchs meines Grimmes; du sollst ihn nicht mehr trinken, sondern ich will ihn deinen Schindern in die Hand geben, die zu deiner Seele sprachen: Bücke dich, dass wir darüber hingehen, und mache deinen Rücken zur Erde und zur Gasse, dass man darüber hinlaufe.

Du wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht, dass du dich davor nicht darfst fürchten, und von Schrecken; denn er soll sich nicht zu dir nahen. Eine jede Waffe, die wider dich zubereitet wird, der soll es nicht gelingen, und alle Zunge, so sich wider dich setzt, sollst du im Gericht verdammen; das ist das Erbe der Knechte des Herrn und ihre Gerechtigkeit.

Der Herr wird dich immer führen und deine Seele sättigen in der Dürre und deine Gebeine stärken, und du wirst sein wie ein wasserreicher Garten und ein Quell, dem es nie an Wasser gebricht.

Du wirst eine schöne Krone in der Hand des Herrn sein; wie ein Bräutigam sich freut über der Braut, so wird sich dein Gott freuen über dir.

Sie sollen nicht umsonst arbeiten, noch unzeitige Geburten gebären; denn sie sind der Same der Gesegneten des Herrn und ihre Nachkommen auch mit ihnen. Und es soll geschehen; ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich schon hören.

Ja, ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; euer Herz soll sich freuen und euer Gebein soll grünen. Daran wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und seinen Zorn an seinen Feinden.

Ein Leben dieser Art unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Leben darin, dass es keine Angst gibt, keine Notwendigkeit der Zerstreuung oder vieler Erholung und keine Notwendigkeit der Selbsttäuschung. Vielmehr kann stets den Dingen und Verhältnissen so, wie sie sind, ins Auge geschaut werden – in der festen Überzeugung sie ändern oder ohne Nachteil ertragen zu können, so dass sie immer und in jedem Fall zu etwas Gutem sich gestalten müssen.

Joh 16 20–27    Ri 5 31    Jos 21 43    Röm 8 28    GBG 481    GBG 635    GBG 646

Sodann braucht man auf diesem Weg auch nicht einmal Gesundheit und ungebrochene Kraft, obwohl sie da häufiger zu finden sein wird; sondern die Schwachen und Leidenden können noch immer fröhlich wirken und leisten oft genug mehr für die Menschheit als die Gesundesten auf dem anderen Weg.

Nun wähle; die beiden Wege stehen in deiner Macht.

Wählst du den »Weg aller Welt«, den jetzt tatsächlich wieder – wie in der Zeit Hadrians – die große Zahl der Vornehmsten und Geringsten und mit ihnen auch der größere Teil der gebildeten Mittelklasse geht, dann klage nicht mehr, wenn dein Schicksal dir zeitweise hart vorkommt; du hast es ja so haben wollen und bist Führern gefolgt, die selber kein anderes Schicksal hatten.

Wählst du hingegen den christlichen Weg, dann sei dir klar bewusst, dass es jetzt nicht darum geht, an den Glaubensbekenntnissen oder kirchlichen Formen viel zu ändern, sondern vielmehr ein ganz gesundes, natürliches, fröhlich und geduldig machendes, für jedermann wohlwollendes Christentum zu zeigen, das sich wie von selbst versteht und keiner beständigen Aufrüttelung bedarf, sondern das immer bereit ist, etwas Gutes und Rechtes zu tun, wie es sich eben als Gelegenheit darbietet (Mi 5 6).

Das ist es, was unsere Zeit verlangt, was Tausende von Herzen instinktiv ersehnen und von der nächsten Zukunft erhoffen. Denn etwas Besseres als das gibt es nicht, und das allein kann die heutige Welt wirksam verbessern.

II.

Von den oben angeführten Stellen aus dem Propheten Jesajas spricht die letzte auch von der körperlichen Gesundheit, um die sich die heutigen Menschen der gebildeten Klassen mehr Sorge zu machen pflegen als um die seelische. Es ist zunächst ganz unzweifelhaft, dass ein wirklicher Gott auch der Herr über die körperliche Krankheit sein kann und muss (2 Mos 15 26, 5 Mos 5 26, 5 Mos 7 15, 5 Mos 32 39), und es ist dem gewöhnlichen Verstand auch einleuchtend, dass ohne innere Fassung und eine vorangehende Kräftigung des Willens zumindest das zahllose Heer der Nerven- und Gemütskrankheiten kaum mit bloßen ärztlichen Mitteln geheilt werden kann. Die wirkliche Ursache dieser und vieler anderer Krankheiten liegt aber tiefer.

Die Gesundheit und physische Kraft unserer Generation ist bereits bedenklich geschwächt und würde schon jetzt den Ansturm einer neuen Völkerwanderung kaum aushalten. Sie kann heute durch keine Wissenschaft oder Kunst mehr wesentlich verbessert und vor einem fortschreitenden Verfall gesichert werden, sondern einzig und allein durch die freiwillige Rückkehr der gebildeten Klassen zu den sittlichen Geboten, die allem gesunden körperlichen Leben zu Grunde liegen. Die Folgen der fortdauernden Missachtung dieser Gebote sind schon in vielen Familien aller Kulturnationen deutlich genug zu sehen, und es kann nicht noch mehrere Generationen lang so weitergehen, ohne dass der Schaden auch in dem Leben der Völker ersichtlich wird.

Der Anfang der Besserung muss ganz auf dem philosophischen Gebiet gemacht werden; die Hygiene allein ist bei weitem wirksam genug. Die Grundfrage, von deren Beantwortung die Gestaltung der künftigen Medizin wie auch der künftigen Philosophie abhängt, lautet dabei: ob es überhaupt einen menschlichen Geist gibt (ungeachtet seines engen Zusammenhangs mit dem Körper), oder ob das, was wir so nennen, nur eine Funktion der körperlichen Organe ist; ob der Geist, wenn es ihn denn gibt, auf den Körper einzuwirken vermag und ob dieser Einfluss mächtiger sein kann als die Einwirkung des Körpers auf ihn.

Ich meine, dies ist die entscheidende Frage im Streit mit dem heutigen Materialismus, der überall Unglück bringt, wo er sich geltend macht, und es scheint beinahe, als ob sich auch in den medizinischen Kreisen allmählich die Wagschale gegen die materialistische Weltanschauung zu neigen beginnt. Hier und da wird bereits zugegeben, dass es eine geistige Kraft gebe, die über die Krankheit mehr oder weniger Herr werden könne und deren Mitwirkung der Arzt notwendig beanspruchen müsse. Nur der Widerspruch wird noch nicht beseitigt, dass es dem kranken Menschen gewöhnlich gerade an dieser Kraft fehlt und dass er sie nicht in sich selbst erzeugen und auch durch kein bloßes Zureden oder Beeinflussen seitens des Arztes oder Pflegepersonals gewinnen kann. Da fehlt also der letzte, logisch unabweisbare Schluss, dass es eine Kraft sein muss, die außerhalb des Menschen steht, die nicht seine Kraft ist, aber in ihm wirken kann. Dies ist das notwendige Schlussglied in der Kette des idealistischen Denkens; ohne das bleibt der Materialismus der Herr dieser Welt, mit allem seinem unausbleiblichen und unabwendbaren Elend.

III.

Das menschliche Leben gleicht bei der gebildeten Klasse heute in der Tat wieder einem wildverworrenen Wald von Zweifeln, Irrungen und Abwegen, wie ihn Dante in den ersten Versen der Göttlichen Komödie schildert. Alle Elemente der heutigen Bildung, Philosophie, Literatur, Kunst, sogar ein Teil der Theologie, tragen das ihre dazu bei und erschweren den Ausgang aus diesem Labyrinth, statt ihn zu erleichtern. Für die Ungebildeten und für einen großen Teil der modernen halbgebildeten Leute hingegen ist es der Sozialismus, der sie von einem gesunden geistigen Leben zurückhält. Bei seiner unzweifelhaft berechtigten Opposition gegen vieles Bestehende ist er zugleich unfähig, eine brauchbare Philosophie auf atheistischer Grundlage zu erstellen. So wandert der geistreichere, begierig nach der Wahrheit suchende Mensch oft viele Jahre lang rat- und ruhelos in trostlosen Wildnissen des Gedankens hin und her, bald von diesem, bald von jenem »System« Gewissheit erhoffend, und der Geringerbegabte ergibt sich in die Mittelmäßigkeit eines oberflächlichen Genusslebens.

Es ist von Dante ganz richtig erkannt und dargestellt, dass in dem geistreicheren Menschen bloß noch das Licht eines gewissen gesunden Menschenverstands leuchtet. Dieses wird ihm wegen seines guten Willens von der göttlichen Gnade stets erhalten, und es kann ihm wenigstens die Unseligkeit des gewöhnlichen Zustands des Menschen deutlich und immer deutlicher machen. Nach und nach gelangt er dann, wenn es ihm rechter Ernst ist, durch die Abgründe der Hölle hindurch auf den steil aufwärts führenden schmalen Weg des Berges der Reinigung, und zuletzt erscheint ihm das Leben, das er früher beinahe hasste, wie eine schöne freie Berghöhe mir reiner Luft und heller Sonne und mit weitem Blick über alle tiefer gelegenen Wohnstätten der Menschen. Von aller Philosophie und von allem bloß äußerlichen Kirchenwesen bleibt ihm dann die wirkliche Liebe zu Gott übrig, als zu einer unzweifelhaft bestehenden, leicht und deutlich fühlbaren, wenn auch nicht verstandesmäßig erkennbaren Ursache und Urkraft alles Guten; und die Liebe zu Christus als der historisch dagewesenen und stets unsichtbar vorhandenen Verkörperung dieses Geistes auf Erden. Und aus dieser Liebe folgen ganz von selber das Bestreben und die Macht, diesem Beispiel so weit möglich nachzuleben, ohne sich weiter viel um menschliche Vorschriften oder Meinungen zu kümmern. Es ist das unvergleichlich glückliche Gefühl der befreiten und zur Selbständigkeit erwachten Seele, die den Tod, auf den es ankommt, überwunden hat und die weiß, dass ihr der andere Tod nichts mehr anhaben kann (Offb 2 11).

Dein Pfad ist fürderhin nicht steil, noch schwer;
Nicht harre ferner meiner Wink’ und Lehren;
Frei, grad, gesund ist, was du wollen wirst,
Und Fehler wär’ es, deiner Willkür wehren.
(Dante, Purgatorio 27)

Denn das ist nicht allein die Höhe des irdischen Daseins, die auf keinem anderen Weg erreicht werden kann; es ist zugleich auch der natürliche und allein wirkliche Übergang zu einer ganz anderen Daseinsstufe. Es ist nicht möglich, sich einen »Himmel« mit anderen Gedanken und Gesinnungen als diesen vorzustellen, auch nicht möglich, unsere wissenschaftlichen oder kirchlichen Bestrebungen, die offenbar sämtlich irdischer Natur und für diese Welt bestimmt sind, in den Himmel hineinzutragen (Offb 21 22). Vollends unmöglich ist es zu glauben, dass man aus einem Geistesleben, das in die irdischen Sorgen und die »Fabeln der Welt« versunken ist, plötzlich und lediglich durch fremdes Verdienst in einen so ganz anderen Zustand gelangen könnte. In diesem Punkt weiche ich stark von der angeblich frommen Ansicht derjenigen ab, die dem »Opfertod Christi« eine erlösende Kraft auch für solche Menschen zuschreiben, die sich in ihrem Leben nie um die Person und das Lebenswerk Christi wirklich gekümmert, sondern in Wahrheit stets nur anderen Göttern gedient haben und die nun bloß von seinem »Tod« einen bequemen Vorteil ziehen möchten. So mechanisch geht es auch im Reich der Gnade nicht zu, sondern der Wille, diese Gnade zu empfangen und allen anderen Lebensgütern vorzuziehen, muss im Leben schon vorhanden gewesen sein bei einem Menschen, der aus der Zeitflut gerettet werden will – auch wenn dieser Wille mit manchen Abirrungen und Unterbrechungen und oft sogar erst in den letzten Lebensabeschnitten vorherrscht.

Es geht jetzt nicht allein darum, die gebildete Menschheit allmählich wieder davon zu überzeugen, dass sie ohne Glauben an übersinnliche Dinge ihr Lebensziel nicht erreichen, ja nicht einmal ihre körperliche Gesundheit für sich und ihre Nachkommen bewahren kann. Wir müssen ihr auch den Mut zu einem wahren und guten Leben auf Erden wiedergeben, der unserer Gegenwart bereits in hohem Grade abhandengekommen ist.

Vielleicht – ich weiß es nicht, aber hoffe es zuversichtlich – kommt bald wieder eine Zeit wie diejenige, von der Jesajas sagt: »Zur selben Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches und die Augen der Blinden aus Dunkel und Finsternis sehen. Und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn und die Armen unter den Menschen fröhlich sein in dem Heiligen Israels, weil die Tyrannen ein Ende haben und es mit den Spöttern aus sein wird. Denn die, welche einen verirrten Geist haben, werden Verstand annehmen, und die Schwätzer werden sich belehren lassen.«

Das ist unsere Hoffnung für das Ganze, eine andere haben wir nicht. Der Einzelne, der zum Leben gelangen will, spreche mit einem antiken Philosophen der ersten christlichen Jahrhunderte:

Der du nach ewigem Plan des Weltalls Dasein beherrschest,
Erd und Himmel erschufst, die Zeiten lenktest von Anfang,
Lasse, Vater, auch mich zu heitern Höhen gelangen,
Satt geworden am Born des Heils, aufjauchzend zum Lichte,
Von den Übeln befreit und der Wucht des irdischen Stoffes,
Ewig richtend auf dich des Geistes seliges Schauen.

(aus dem »Gebet des Boethius«)