Zu Jer 51 17–18:
Alle Menschen aber sind Toren mit ihrer Kunst, und alle Goldschmiede stehen beschämt da mit ihren Bildern; denn ihre Götzen sind Trug und haben kein Leben. Sie sind nichts, ein Spottgebilde; sie müssen zugrunde gehen, wenn sie heimgesucht werden.
Die Kunst ist gerade so viel wert, wie sie die Menschen über sich selbst erhebt, sie reiner, kräftiger, größer macht. Wenn sie das nicht tut, dann ist sie im besten Fall eine Spielerei, meistens aber ein Seelenverderb, da sie die Sinnlichkeit im Menschen weckt und befördert. Wenn man den Ursachen der menschlichen Übel näher auf den Grund geht, wird man finden, dass sie in den weitaus meisten Fällen auf übermäßiger Sinnlichkeit (im weitesten Sinn) beruhen. Diese äußert sich dann in Untreue gegen Gott, gegen das eigene bessere Selbst und gegen die Menschheit.
Dieser »Naturalismus« oder, wie man es eigentlich nennen sollte: dieses »animalische Lebensgefühl« spielt im Leben der meisten Menschen eine manchmal größere, manchmal geringere Rolle. Man muss sich mit ihm einmal prinzipiell auseinandersetzen, um eine so gefährliche Sache nicht dem Zufall zu überlassen.
Die gewöhnliche, gemäßigt materialistische Auffassung besteht darin, die sinnlichen Dinge als etwas im Grunde Gleichgültiges, als »Adiaphora«1 anzusehen, die das Dasein erheitern und auf den Charakter keinen Einfluss haben. Der Hauptfehler dieser Anschauung, die im Altertum und in der Renaissanceperiode vorherrschte und von der wir jetzt wieder stark beeinflusst werden, ist der, dass sie nicht wahr ist. Nichts hat im Gegenteil größeren Einfluss und ist ein wirksameres Mittel, um einzelne Menschen und ganze Völker gründlich herunterzubringen und eine grundsätzliche Trennung von Gott herbeizuführen.
Schon ein uraltes Wort beschreibt geistvoll diese Gefahr und wie man ihr begegnet:
Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. (1 Mos 4 7)
Ein fester Entschluss, stark entgegengesetzte, geistige Interessen und wahre Freundschaften an Stelle dieser egoistischen Neigungen sind die besten Mittel, um ihnen auszuweichen. Die meisten heutigen Menschen überlassen sich aber stattdessen ihren augenblicklichen Eindrücken, ohne die Sache jemals recht zu überlegen, und geraten dadurch nach und nach, oft mit geschlossenen Augen, in furchtbare innere und äußere Konflikte, wie sie im ersten Teil des Faust-Gedichts und noch schöner und großartiger in den Königsidyllen von Tennyson geschildert sind. Dante hat die Frage nicht eigentlich erfasst, trotz der edlen Gestalten der Beatrice und Piccarda2, und die ganz modernen Dichter haben sie größtenteils nur vergröbert, statt gelöst. Dagegen fasst Tolstoi die Sache an der Wurzel an, indem er sagt: »Die Schönheit und die Freude, nur als Schönheit und Freude, unabhängig von dem Guten – sind widerwärtig. Ich bin mir darüber klar geworden und habe sie aufgegeben.«
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)
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"Mitteldinge", siehe Wikipedia-Artikel ↩
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Beatrice und Piccarda sind Gestalten aus Dantes Göttlicher Komödie. ↩