Zu Jer 9 22–23:
So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.
Auch heute noch besteht der große Unterschied zwischen den Menschen, besonders der gebildeten Klassen, darin, für was sie eigentlich Interesse haben. Sind es materielle Dinge, heute vor allem Handel, Verkehr, Erweiterung und Erleichterung der Verbindung zwischen den Völkern, überhaupt Vermehrung des Reichtums? Oder sind es mehr geistige Interessen, Verbesserungen der Moral, der Gesetzgebung, der Volksbildung, Erneuerung der Kirchen, Idealisierung der Staaten?
Es kann in der nächsten Zukunft leicht dahin kommen, dass sich diese beiden Geistesrichtungen gar nicht mehr recht verstehen. Der Erfolg wird aber immer vor Augen führen, dass die materielle Richtung kein dauerndes Wohlsein für Völker und einzelne Menschen zu begründen vermag und sie auch jene, die ihr ergeben sind, nicht hinreichend befriedigen kann. Sie haben alle, besonders im Alter, etwas Hartes und Tyrannisches an sich, wenn sie Erfolg gehabt haben, und ansonsten etwas Pessimistisches und Mürrisches – sofern sie nicht ganz mittelmäßige Leute mit geringen Ansprüchen sind.
Dagegen bleiben die Idealisten viel leichter jung und heiter, sofern der Idealismus bei ihnen eine Überzeugung ist und nicht im Hintergrund doch noch eine Verehrung für den Reichtum besteht. Dies kommt besonders bei Schriftstellern häufig vor, was dann dazu führt, dass sie die Geldleute ganz anders schildern, als sie in Wirklichkeit sind.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)