Versuch’s doch einmal mit dem Christentum, möchte man allen zweifelnden und unglücklichen oder vereinsamten Herzen zurufen. Du hast ja schon alles mögliche andere versucht. Versuche einmal das. Es lädt dich selbst freundlich dazu ein.
Mt 11 28–30 Mt 19 29 Joh 1 12 Joh 6 37 Joh 7 17
Aber versuche es mit dem einfachsten, unfehlbarsten Christentum, das auch allein die Verantwortung für alle seine Zusagen übernimmt: Das sind die Worte von Christus, wie sie in den Evangelien stehen; nichts weiter. Das andere ist alles Zutat, vielleicht sehr gute und nützliche, aber doch Zutat, die nicht den gleichen Wert beanspruchen kann. Das zu verlangen, wäre den Aposteln selber niemals eingefallen. Du brauchst auch anfangs nicht einmal an die »Göttlichkeit« Christi zu glauben; er selbst erlässt das den Anfängern deutlich genug. Nachher wird sie dir ganz von selbst aufgehen, wenn du, nachdem du seine Wort angenommen hast, den Unterschied zwischen ihnen und allen menschlichen Worten spürst.
Dass das Christentum nach neunzehn Jahrhunderten und so ungeheuren Veränderungen alles sonstigen Bestehenden heute noch genau so vorhanden ist wie am ersten Tag nach der Auferstehung Christi und genau so überzeugte Anhänger besitzt wie damals; und dass alles, was im Laufe dieser langen Zeit an Unrichtigem oder Übertriebenem an diese Wahrheit herangekommen ist, immer wieder untergegangen ist und sie nur heller und überzeugungsfähiger zurückgelassen hat – das alles sollte jedem verständigen Menschen die Wahrheit dessen einleuchtend machen, was in Mt 21 44 und Mt 24 35 ausgesprochen ist.
Und auch die »Früchte« dieser Lehre sind doch ganz andere gewesen als die der antiken Göttermythen oder des Buddhismus oder der chinesischen Philosophie oder der Lehre Mohammeds. Wenn dabei auch viel Mangelhaftes ist, so kommt es nicht von der Befolgung, sondern von der Nichtbefolgung der Lehre. Wenn die Christen so getreue Gläubige wären wie die Völker des Islam, dann wäre der allgemeine Weltzustand unendlich viel besser, als er ist.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)