Das Lesen der Bibel wird stets das beste Mittel bleiben, um das Christentum kennen und schätzen zu lernen. Wenn du dich aber einmal ernstlich daran wagst, dann rechne mit deiner Schwachheit beziehungsweise mit dem »alten Adam«, der dem allen nicht geneigt ist, und lies nicht weiter, sobald dir etwas uninteressant oder unverständlich vorkommt.
Es ist gut, die sämtlichen Schriften der Bibel zu kennen; aber es ist nicht zu leugnen, dass manche davon (die ich aber trotzdem nicht entbehren möchte) auf die Anfänger in diesem Studium einen unbedeutenden oder fremdartigen Eindruck machen. Fange mit den Evangelien an: Das ist das Wichtigste und verfehlt auf niemanden, der aufrichtig ist, seinen Eindruck. Dann lies die historischen Bücher, denen kein anderes Geschichtswerk der alten Welt gleichkommt; dann die Psalmen und Hiob, dann die Propheten und zuletzt die Briefe der Apostel, die Apostelgeschichte und die Offenbarung, womit unsere Geschichte beginnt. Die Sprüche, den Prediger und das Hohe Lied kannst du als interessante Werke alter Poesie und Spruchweisheit betrachten, die auf das Höchste gepriesen würden, wenn sie von Buddha herrührten oder in den Veden1 stünden.
Im Übrigen ist die Vorliebe für dieses oder jenes Stück der Bibel ganz individuell. Ps 37 und Ps 73 sind die Lieder, die am meisten beruhigen können, wenn man über dem »Glück der Gottlosen« in innere Anfechtung gerät. Ps 90 ist wahrscheinlich das älteste bekannte Gebet und noch heute so frisch und schön wie jemals. Ps 91 ist der Leibpsalm aller kriegführenden und tapferen Leute seit jeher gewesen. Das Evangelium Johannes ist dasjenige, das die innere Natur des Christentums am besten enthüllt; Markus ist wahrscheinlich die ursprünglichste Erzählung der Tatsachen gewesen, wie sie der frischen Erinnerung der unmittelbaren Zeugen entsprechend waren, aber sehr kurz gefasst und im Hinblick auf den Schluss, soviel mir bekannt, von der Kritik nicht unangefochten. Doch kommt es bei diesen Schriften mehr auf die innere Wahrheit an, die sich an dem Leser bezeugt, wenn er ganz aufrichtig ist, als auf diese ohnehin niemals ganz zuverlässigen historischen Kritiken.
Es gibt jedenfalls kein Buch und hat nie eines gegeben, das sich mit der Bibel an Reichtum des Inhalts und Anregungskraft messen könnte.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)
-
Die Veden sind eine Sammlung religiöser Texte im Hinduismus. ↩