8. Dezember

Die modernen ethischen, theosophischen oder spiritistischen Gesellschaften haben alle den gemeinsamen Hintergrund und Ausgangspunkt für ihre Lehren, dass sie das Christentum (ebenso wie die anderen positiven Religionen, die in den Kulturländern vorkommen) als unbefriedigend ansehen. Sie wollen an ihre Stelle – als etwas viel Besseres und Höheres – eine Art von Religionsphilosophie setzen, die bei den Theosophen an die altindische Philosophie anknüpft und dort als das Produkt eines dem Christentum weit überlegenen Geistes ausgegeben wird.

Will man sich über diese Wertung ein eigenes Urteil bilden, dann genügt es, wenn man zum Beispiel die Bhagavad Gita1 neben die Evangelien stellt. Einem Geist, der nicht gegen das Christentum voreingenommen ist, muss es auffallen, dass die uns überlieferten Worte Christi eine unendlich größere Kraft, überhaupt einen größeren geistigen Gehalt besitzen und dennoch viel leichter verständlich sind, auch für Ungebildete. Wer das nicht bemerkt, dem ist nicht zu helfen. Er will es nicht sehen, oder es fehlt ihm überhaupt an Urteilskraft.

Alles Theosophische ist betäubend für Menschen ohne große Bildung. Sind sie geistig gesund, werden sie sich dabei nie ganz wohl fühlen können, sondern es entweder nicht verstehen oder in Aufregung und Schwärmerei verfallen. Die wirklich Gebildeten aber wissen, dass sich schließlich alles in bloße Spekulation, unfruchtbares Nachsinnen über unerforschliche Dinge auflöst, ohne Wirkung auf das Leben. Die Verhältnisse Indiens zeigen dies seit vielen Jahrhunderten, und die philosophische Ethik in China besitzt ein ebenso altes Beispiel ihrer Unwirksamkeit.

Dies sind charakteristische und warnende Erscheinungen unserer Zeit, die sehr zu einer innerlichen Belebung des Christentums auffordern.

Mk 13 22–23    GBG 574    GBG 843    GBG 384

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Die Bhagavad Gita ist eine der zentralen Schriften des Hinduismus. Vgl. Wikipedia-Artikel