Das Herrlichste am christlichen Glauben ist, dass der Mensch mit sich selbst gar nicht mehr zu rechnen und zu debattieren hat, sondern nur noch mit Gott. Und ferner, dass all seine Vollkommenheit Gott nicht hindert, mit einem höchst unvollkommenen Wesen (sobald nur gegenseitiger Wille dazu vorhanden ist) ein Freundschaftsverhältnis einzugehen, das alle menschlichen Freundschaften weit hinter sich lässt und in dem die Seele volles Genügen findet.
Was das Böse in Wirklichkeit ist, wissen wir nicht und würden es vielleicht auch nicht ertragen zu wissen. Für uns besteht es darin, dass wir die Freundschaft mit Gott durch unseren eigenen freien Willen abbrechen und aufgeben.
Der Anfang dazu ist immer ein Misstrauen: in Gottes Verheißungen, in die Wahrheit seiner Worte oder in die Möglichkeit seiner Gebote. Ein solches Misstrauen wird oft wie von einer fremden Stimme in das Herz gesät. Daraus folgen Unglaube, Zweifel und zuletzt der Abfall, nachher die Reue. Die Umkehr aber, das vergiss nie, steht dir immer offen.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)