»Wie man unmöglich sagen kann, was Gott ist, ebenso unaussprechlich ist alles, was man erfährt, wenn man sich selbst in Gott verliert.« Dieser Ausspruch der Elisabeth von Baillon drückt am besten aus, was »Mystik« oder »inneres Leben« eigentlich ist. Es ist nicht möglich, die Sache selbst zu beschreiben, und wenn man es könnte, so verstünde es doch nur der, welcher der Beschreibung nicht bedarf. Man kann nur versuchen, einzelne Auswirkungen dieses Seelenzustandes allgemein klarzumachen, und auch das wird stets noch dem Verdacht unterliegen, Täuschung oder Fantasie zu sein.
Auf Fantasie stellt man aber doch nicht leicht sein ganzes Lebensglück ab, wenn man sonst ein verständiger, welterfahrener Mensch ist. Und umgekehrt zeigt gerade diese Welterfahrung täglich, welch ein ganz fantastisches oder sonst völlig unhaltbares Fundament das Glück der Weltleute hat. Sie sind daher vermutlich die wahren Träumer, nicht die Mystiker.
Aber das kann man auch mit aller Gewissheit sagen: Gott gehorchen und seinen Willen ernst, beständig und treu vollbringen, das allein und kein anderer Weg irgendeiner Art führt zu der Vollkommenheit, die für den Menschen überhaupt erreichbar ist. Alle andersartige Mystik ist ein gewaltiger Irrtum und — wo sie nicht sehr naiv und gutgläubig ist — ein ebenso großer Seelenverderb.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)