Der Agnostizismus1 ist jetzt unter den Gebildeten, die dem vollen Materialismus nicht huldigen können, sehr verbreitet. Er war die schließliche Lebensanschauung Goethes, und seine speziellen Verehrer folgen ihm darin gewöhnlich. In der Lebensgeschichte Carlyles steht darüber das nicht üble Wort: »Er sieht aus wie das schönste Mehl, aus dem das beste Brot gebacken werden könne. Versucht man es aber, so ist es nichts als pulverisiertes Glas.«
Es ist ganz wahr: Man kann vom Agnostizismus nicht leben; er ist bloß schön zum Anschauen und zur Selbsttäuschung. Carlyle selbst kam nie ganz darüber hinaus, weil er das Christentum bloß in der Form des steifen und harten schottischen Calvinismus kannte, die ihn nicht befriedigen konnte.
Hoffnung und Liebe richten sich auf eine nie ganz zu erreichende Vollkommenheit, und doch, hältst Du sie fest, werden sie das Salz und der Stab Deines Lebens sein.2
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)
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Agnostizismus ist eine Weltanschauung, welche die grundsätzliche Begrenztheit menschlichen Wissens, Verstehens und Begreifens betont und die Frage, ob Gott existiert, für nicht klärbar hält. ↩
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»Hope and love adress themselves to a perfection never realised, and yet, firmly held, become the salt and staff of life.« (Robert Louis Stevenson) ↩