Die beste aller menschlichen Eigenschaften ist die Treue. Sie ersetzt fast alle anderen Eigenschaften und wird ihrerseits durch keine andere ersetzt.
Traurig dabei ist, dass sie bei den Menschen eine eher seltene, bei den Tieren eine häufigere Eigenschaft ist, so dass der Mensch in diesem Hauptpunkt eigentlich nicht über dem Tier steht. Stünde er darüber, würde mich das mehr als alles andere von der Möglichkeit einer stufenweisen Entwicklung aller lebenden Wesen1 überzeugen.
Auch dankbar sind die Menschen, im Allgemeinen gesprochen, seltener als die edleren Tiere. Darauf rechne also nicht, mache aber selber stets eine rühmliche Ausnahme davon. Die gewöhnlichste Form der Undankbarkeit ist jene, die sich mit einem Besuch oder einer sonstigen »Anerkennung« aller Dankbarkeitspflichten entledigt. In Monarchien ist es die Ordensverleihung, durch die sich das Verhältnis sogar umkehrt. Solchen allzu billigen Bezahlungen muss man, soweit möglich, ausweichen und lieber Gläubiger bleiben.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)
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Hilty spielt hier auf die Darwinsche Evolutionstheorie an, die er — zumindest im Hinblick auf die Entstehung des Menschen — für nicht überzeugend hielt. ↩