Das einzige vernünftige Ziel des Lebens ist die Beförderung des Reiches Gottes auf Erden, eines Reiches des Friedens und der Liebe anstatt des Unfriedens und des Kampfes ums Dasein. Nur soweit wir daran mitgearbeitet haben, hat unser Leben einen Zweck und Wert gehabt. Und daran mitarbeiten kann jeder, durch Tun oder durch Leiden.
Beständig etwas Nützliches arbeiten, aber weder hetzen noch sorgen; Herr bleiben der Dinge, die an uns herankommen, und unserer eigenen Stimmungen, niemals sie Herr über uns werden lassen — das ist ein richtiges Programm für jedes neubeginnende Lebensjahr. Aber ausführbar ist es nur, wenn man mit dem Herrn aller Dinge in einem engen und festen Bund steht und sich entschließt, seiner Führung unbedingt zu folgen. Sonst ist jeder Mensch, auch der weiseste und mächtigste, ein Spielball der ihn umgebenden Menschen und Verhältnisse, gegen die er sich im besten Fall beständig zur Wehr setzen muss. Und das Leben ist dann eine mit jedem Jahr anwachsende Last von größtenteils kleinlichen und doch mühseligen Beschäftigungen, unter denen es zuletzt unfehlbar (und meistens kläglich) zusammenbricht.
Die frommen Leute schlagen manchmal einen Mittelweg ein, indem sie zwar im Allgemeinen Gottes Führung wünschen, aber doch für gewisse Dinge, wie zum Beispiel Heiraten, Geselligkeit, Politik und Geldsachen, eine eigene Abteilung des Denkens und Handelns haben, in die sie Gott nicht einmal gern hineinsehen lassen, geschweige denn, dass sie ihn darüber auch um Rat fragen. Denn sie wissen wohl, dass ihre Denkungsart nicht richtig ist und eigentlich aufgegeben werden müsste; aber sie sorgen, plagen und treiben sich und andere in diesen Dingen dennoch kaum weniger als alle Welt. Bloß wenn sie damit ins Unglück kommen, schreien sie wieder zu Gott um Hilfe. Das ist zwar das Beste, was sie dann noch tun können; aber zu verwundern ist es nicht, wenn er sie zuerst eine Zeit lang die Folgen ihres eigenmächtigen Handelns deutlich spüren lässt.
Überarbeiten muss man sich nicht, und das ist in der Regel, bei geordneter Lebensweise, auch nicht nötig. Mäßige Arbeit aber ist das beste Erhaltungsmittel der Kraft und das einzige unschädliche Reizmittel für untätige oder erschlaffte Kräfte.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)