Es in eine verbreitete Ansicht, dass es zu schwer oder vielmehr gar nicht möglich sei, nach den wirklichen Vorschriften des Christentums zu leben. Wenn dies wahr sein sollte, wäre es ebenso gut, eine solche Religion aufzugeben, statt sie bloß pro forma, zu lediglich kirchlichen oder politischen Zwecken beizubehalten. Allerdings würde wahrscheinlich, wenn Christus selber wieder auf Erden erschiene, das »ganze Jerusalem« ebenso sehr in Schrecken geraten wie beim ersten Mal.
Ich glaube aber nicht, dass die obige Ansicht jemals von einem Menschen geteilt oder gar ausgesprochen wurde, der das Christentum wirklich zu seinem Lebenseigentum gemacht hatte. Dann überwiegt das Schöne und Große bei weitem die Schwierigkeit. Der Anfang ist wohl ein Wagnis, aber nicht der Fortgang. Der ist vielmehr ein geebneter, wenn auch schmaler Pfad mit vielen Ruhepunkten und offenen Türen.
Lies einmal die Rede aufmerksam durch, die man jetzt die »Bergpredigt« nennt und deren Resümee auf uns gelangt ist. Sieh, ob du dich auch darüber »entsetzest« oder das alles für »ideale« Vorschriften hältst, die man in diesem Sinne annehmen und verstehen müsse, aber nicht auszuführen brauche. Von dieser Prüfung und Antwort hängt dein innerer Fortschritt ab. Willst du nicht wenigstens lebhaft wünschen, dies alles befolgen zu können, dann ist das Christentum nichts für dich, sondern musst du dich mit ein wenig Kirchenwesen oder Philosophie begnügen.
Es wäre allerdings eine ganz offenkundige Torheit, die Regeln der Bergpredigt aufstellen oder befolgen zu wollen, wenn es keinen Gott, sondern nur eine naturgeschichtliche Weltordnung im Sinne Darwins und einen bloßen »Kampf ums Dasein« unter den Menschen (oder im Großen nur eine sogenannte »Realpolitik«) gäbe. Wenn es aber einen Gott gibt und die treue Befolgung seiner Gebote mit dessen Segen, deren Missachtung aber mit seinem Fluch verbunden ist, dann steht die Sache anders. Das kann zum Glück von jedermann versucht werden; man braucht es nicht ohne weiteres zu glauben. Und es wird in der nächsten Zeit von vielen versucht werden, denen der Materialismus bereits zuwider geworden ist.
Joh 7 16–17 Joh 7 46 Joh 8 12 Joh 8 47
Man hat aber, wenn man solche Kapitel der Evangelien ganz unbefangen liest, das Gefühl, das Christentum müsse von einzelnen Menschen ganz von neuem angefangen und von dem ungeheuren Ballast oberflächlicher Kirchlichkeit befreit werden, mit dem es Jahrhunderte, die ihm geistig nicht gewachsen waren, überschüttet haben. Eine solche Zeit kommt jetzt heran: Die einen kündigen dem Christentum rundweg den Gehorsam auf, weil dies mit keinem bürgerlichen Rechtsnachteil mehr verbunden ist. Die anderen aber wenden sich ihm wegen seiner inneren Vorzüglichkeit nur um so vertrauensvoller und fester zu.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)