10. Januar

»Mit Schweigen niemand fehlen tut.« 1 Dieses etwas sonderbare Wort pflegte einer meiner liebsten Freunde, der sich durch ein sehr erfolgreiches Leben in den verschiedensten Lebensstellungen auszeichnete, stets im Mund zu führen. In der Tat gehen schwierige und unangenehme Lebenskomplikationen damit oft am leichtesten vorüber, während das sogenannte »Sich-Aussprechen«, das manche Leute lieben, die Differenzen meist nur sichtbarer und mitunter unheilbar macht.

Auch das Wort »wir wollen es überlegen« tut oft Wunder gegenüber sehr lebhaft empfindenden oder in ihren Neigungen und Vorsätzen leicht veränderlichen Personen.

Ein geeignetes Mittel, um im schriftlichen Verkehr unangenehme Erörterungen zu vermeiden, besteht darin, auf das, was man nicht will, gar nicht zu antworten und sich auch durch keine Wiederholungen dazu bewegen zu lassen. Die weitaus größte Zahl der Menschen gibt den Versuch schon nach dem zweiten Mal auf.

Man darf aber nicht zu offenbarem Unrecht schweigen, das man ändern könnte und sollte, und auch nicht mit innerem Hass.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Das Wort »fehlen« wird hier im (heute kaum mehr gebräuchlichen) Sinne von »etwas falsch machen« verwendet.