Mit der Theologie als Wissenschaft halte dich auf friedlichem Fuße, und achte sie. Sie ist so viel wert wie andere Wissenschaften, aber auch nicht mehr, und für dein inneres Lebenswerk sind solche Kenntnisse nicht erforderlich. Das sagt uns Christus selber: Joh 3 3–12, Lk 10 21–23.
Bei der Beurteilung geistlicher Personen, von den höchsten Würdenträgern der Kirchen bis zum Missionar oder der Diakonissin und barmherzigen Schwester, kommt es für uns Laien hauptsächlich darauf an, ob sie eine der großen geistlichen Gaben besitzen: die Gabe des Trostes, des wirksamen Bittens (Joh 15 7), der Krankenheilung (Mk 3 15, Mk 16 17–18), der Vergebung (Mt 18 18, Joh 20 23) oder der Weissagung — genauer gesagt, des richtigen Blickes für die Gegenwart und Zukunft — oder des Geistes der Wahrheit (Joh 17 17, 1 Joh 5 20). Vertraue dich keiner Art von geistlicher Führung an, bei der nicht wenigstens etwas davon bemerkbar ist.
Alles Übrige, theologische Gelehrsamkeit, kirchlicher Eifer, Talent zur Predigt oder was immer sonst, kommt nur in zweiter Linie in Betracht, ist sogar mitunter ein Hindernis für den Empfang der genannten Gaben. Diese können auch nicht erlernt und noch viel weniger durch irgendeine Ordination übertragen werden, sondern sind eine direkte göttliche Legitimation und heute noch so gut wie jemals in allen kirchlichen Genossenschaften möglich.
Es liegt an dem geistlichen Stand selber, wenn diese Gaben in ihm nicht immer hinreichend vorhanden sind. Dieser Mangel, nichts sonst, ist der wahre Grund, wenn der geistliche Stand zeitweise an Bedeutung und berechtigtem Einfluss auf die Menschheit verliert.
Zu 4 Mos 26 61, 3 Mos 10 1–3, 1 Petr 4 17. Das kommt auch heute noch vor bei geistlichen Personen, die das Wort Gottes, das ihnen anvertraut ist, bloß geschäftsmäßig oder zu politischen oder kirchlichen Zwecken verkünden und nicht so, wie sie es schuldig wären. Der Untergang ihres eigenen geistigen Lebens ist die unmittelbare Folge davon.
Es muss ja zu allen Zeiten und in jedem Volk eine Anzahl von Leuten geben, die mit sich und der Welt abgeschlossen haben, die für sich selbst keine Wünsche mehr haben und nur in richtiger Weise zur Hilfe für andere da sind. Das ist der wahre »Klerus«; wenn er diese Eigenschaften nicht besitzt, hat er wenig Wert. Wenn du dich imstande fühlst dazuzugehören, dann nimm keine Königskrone mehr dafür. Eine solche ist heutzutage auch nur noch etwas wert, wenn sie mit dieser Gesinnung getragen wird.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)