19. Januar

Lass den Glauben, dass der Mensch in Naturanlage und Lebensbestimmung dem Tier ähnelt, nicht zu einer Überzeugung werden. Wehre dich mit aller Kraft gegen diese moderne Anschauung, die doch im günstigsten Falle nicht mehr ist als eine wissenschaftliche Hypothese, deren Beweis aussteht und immer ausstehen wird.

Mit einer solchen Anschauung geht das Bedeutendste verloren, was uns vom Tier unterscheidet – soweit ist die Hypothese vielleicht richtig –, und der Rest ist nicht mehr viel wert. An dieser Klippe scheitert jetzt das Glück vieler Menschen, zeitweise ganzer Völker. Bloße Kirchlichkeit kann nicht dagegen helfen, wenn sie ganz unvermittelt neben jener Anschauung gepflegt wird. Es muss vielmehr eine feste, das Leben beherrschende Überzeugung dem Darwinismus entgegenstehen.

Ich konnte nie bemerken, dass die Menschen unserer Zeit auf dem Weg des bloßen philosophischen Nachdenkens zu einem festen Gottesglauben gelangten, oder dadurch, dass sie die moderne Naturwissenschaft mit der Religion zu verbinden versuchten. Weitaus öfter geschieht dies auf dem Weg des praktischen Bedürfnisses, weil ein anderer Weg zum äußeren Glück und vor allem zur konstanten inneren Befriedigung gar nicht zu finden ist. Für einzelne hochstrebende Seelen ist der Glaube an ein solches Geisteswesen, das dem weitestgehenden Idealismus entspricht, und an eine Welt, die durch die höchsten Ideen (und nicht durch die schlechtesten Instinkte der menschlichen Natur) regiert wird, ein dringendes Lebensbedürfnis. Ohne diesen Glauben könnten sie ihre eigene Existenz nicht verstehen und angesichts alles Schweren, das ihnen das Leben bringt, frohen Mutes fortführen. Ihnen sagt eine englische Schriftstellerin unserer Zeit:

Nein, schwanke nicht – es ist ein sicheres Gut,
Das Edelste zu suchen – es ist Dein einziges Gut,
Hast Du es erst gesehen: Denn jene höhere Erscheinung
Vernichtet jede geringere Wahl auf immer.1

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Nay, falter not – ’tis an assured good
    To seek the noblest – ’tis your only good,
    Now you have seen it: for that higher vision
    Poisons all meaner choice for evermore.
    (George Eliot, eigentlich Mary Anne Evans, 1819–1880)