Selbst den besten Menschen geht das Wort Christi in Mt 20 25–28 nur schwer und nach vielen schmerzlichen Erfahrungen ein. Sie möchten doch nicht immer nur dienen, sondern irgendwann auch zu einem ruhigen, bescheidenen Genuss ihres eigenen Daseins gelangen. Worte wie die des Propheten Jesajas »Der Gerechte kommt um und niemand nimmt es zu Herzen« (Jes 57 1) kommen ihnen fast wie eine Gotteslästerung vor. Sogar Christus, der sich dessen doch vollbewusst war, ist es mitunter offenbar schwer geworden, das Gewicht einer Sendung zu tragen, für welche die meisten Menschen nie viel Geschmack und Verständnis besitzen werden.
Jedenfalls denke nicht, dass du besondere »Gaben« wie die des Tröstens, der Heilung oder der Vergebung (die heute noch wie früher möglich sind) empfangen wirst, wenn du sie nicht zum Dienen gebrauchen willst. Das ist das Geheimnis der zu geringen Macht mancher heutigen Vorsteher der Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Die Kräfte sind immer bereit für Leute, die bereit sind, sie richtig zu gebrauchen.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)