Liebe ist ein täuschendes oder wenigstens oft nicht durchführbares Wort. Gegenüber den Menschen ist Mitleid das richtige Gefühl, gegenüber Gott Vertrauen und Dankbarkeit. Alle Menschen wirklich lieben zu wollen, das geht einfach nicht und führt nur zu großen Täuschungen und schließlich zu Pessimismus. Aber gegen alle freundlich sein und gegen alle Mitleid, niemals Hass, Furcht oder Zorn empfinden, das kann man. Diejenigen, die sehr viel von »christlicher Liebe« zu sprechen pflegen, können gerade das oft nicht.
Häufiger Verkehr mit Menschen ohne Liebe ist ein Seelenverderb; da ist es besser, wenn es nicht anders geht, den Verkehr zu vermindern oder ganz abzubrechen.
Mangel an Mitleid ist bei Frauen der entscheidende Charakterzug – wo du den bemerkst, hüte dich –, und übermäßige Liebe zu Menschen ist ihr Fallstrick, dem sie am wenigsten entgehen.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)