Eine der kläglichsten Erscheinungen bei den heutigen Gebildeten ist es, dass diese einen zu großen Wert auf die Gesundheit legen, so dass das Interesse an ihrer Erhaltung bei manchen alle anderen Interessen überwiegt. Sie scheinen zu vergessen, dass in der Weltgeschichte Tausende von Menschen, die schwach und kränklich waren, dennoch, ja oft gerade dadurch zu den größten Taten und Leiden fähig gewesen sind.
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Aber der eigentliche Hintergrund dieser Sehnsucht nach Gesundheit und Kraft ist eben nicht die Besorgnis, nichts Gutes leisten zu können, sondern die ungezügelte Gier nach Lebensgenuss, an dem sie sich gehindert fühlen. Und das ist es, was es so schwer erscheinen lässt, mit solchen Leidenden, die es oft wirklich und in hohem Grade sind, eine ungehemmte Teilnahme zu empfinden.
Man muss auch das zweifellos große Geschenk der Gesundheit nicht überschätzen, sondern seine Verminderung oder sogar seinen Verlust mit Würde ertragen lernen. Denn das höchste und unentbehrlichste Gut ist sie noch lange nicht.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)