Es kommt oft vor, dass krankhafte Zustände ganz von selbst verschwinden, wenn man ihnen nicht allzu große Aufmerksamkeit schenkt, und noch öfter, dass kränkliche Leute ihre Pflichten viele Jahre hindurch treulich und fröhlich erfüllen, weil sie gar nicht in der äußeren Lage sind, viele Kuren anwenden zu können – während andere in beständigem Aufenthalt in Kuranstalten ein unfruchtbares und innerlich trostloses Leben führen.
Vielen solchen Menschen könnte geholfen werden, wenn man ihnen einfach die Pflicht, etwas zu leisten, begreiflich machen könnte. Manchen stets kränkelnden Leuten fehlt sogar in Wirklichkeit gar nichts weiter als eine rechte Pflicht und Lebensaufgabe. Lege ihnen eine solche auf, nach vollstem Maßstab ihrer Kraft, so werden sie dadurch gesünder als durch alle Kuren und alle Ruhe und Pflege. Das weiß jeder Kutscher für seine Pferde; aber viele Ärzte und Krankenpfleger wissen es nicht für ihre Kranken, deren Erzieher sie werden sollten.
Das Allergesündeste ist in vielen Fällen eine rechte, wahre Liebe, weil sie eine Verleugnung alles kleinlichen Egoismus mit sich bringt. Aber dieses Wunderheilmittel ist auch nicht auf jeder Straße zu finden, und nicht alle können es für sich in Anwendung bringen. Am allerwenigsten jene, die sich schon mit geringeren Nachahmungen dieses Mittels begnügt haben.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)