Die Philosophie ist jetzt entweder eine Denkübung, etwa wie die Mathematik, aber ohne weiteren Zweck und Nutzen für das Leben als eben die Gewöhnung des Geistes an die Tätigkeit des Denkens. Oder sie ist die Aufstellung einer allgemeinen Weltauffassung, so, wie sie sich in dem Gedankenkreis irgendeines Denkers gestaltet. Das ist dann die (historisch vielleicht sehr interessante) Weltanschauung Platos oder Augustins oder Hegels oder Schopenhauers und ihrer Zeit. Aber ob die Welt wirklich das war und ist, wofür diese Denker sie hielten, ob sie also zum Beispiel »Wille und Vorstellung« ist und nichts anderes, das ist eine andere Frage.
Zur Klarheit über den Lebensgang des einzelnen Menschen, zur Verbesserung seines Charakters, zur Erhöhung seiner Kraft zum Guten und zur Vermehrung seines Glücks tragen diese Systeme in der Regel wenig oder nur indirekt bei. Sonst müssten ihre Erfinder die Besten und Glücklichsten der Menschen gewesen sein, was keineswegs immer der Fall war. Die Philosophie hat daher auch, solange sie sich nicht mit diesen Fragen vorzugsweise beschäftigt, nur einen geringen Einfluss auf die Gestaltung der menschlichen Dinge, im Ganzen wie im Einzelnen.
Die Welt wäre jetzt aber für eine gute Philosophie reifer, als sie es seit Kant gewesen ist, und aus diesem Verlangen heraus wird — wahrscheinlich in der deutschen Nation, wenn sie einmal von ihrem jetzigen »Realismus« genug bekommen haben wird — wieder ein Philosoph erstehen, der das Werk Kants fortsetzt und zu einem wirklichen Ende führt.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)