Was willst du eigentlich? Frage dich das doch einmal in einer ganz ruhigen Stunde und gib aufrichtig Antwort. Vielleicht ein prächtiges Leben ohne Arbeit und Sorgen, mit allen morgen- und abendländischen Genüssen und natürlich mit steter Kraft und Lust sie zu genießen, so ungefähr, wie sich die Islamiten ihr Paradies vorstellen? Ein solches gibt es aber in unseren zivilisierten Verhältnissen kaum mehr an irgendeinem Platz; jedenfalls ist es bei deinen Verhältnissen höchstwahrscheinlich völlig ausgeschlossen. Warum nicht also lieber ein Leben mit Arbeit, aber in sicherer Führung, ohne drückende Sorgen und mit einer nahezu beständigen Heiterkeit und Ruhe des Gemüts? Das kann man haben; nur muss man es bestimmt wollen und den gegebenen Weg dazu einschlagen.
Die Mehrzahl der Menschen weiß gar nicht, was sie will, und denkt darüber sehr selten wirklich nach. Von der Minderheit wollen einige Unmögliches und arbeiten sich vergeblich daran ab: andere sind schwankend in ihrem Wollen und erreichen deshalb nichts; diejenigen aber, die etwas Mögliches, ihren Kräften und der wirklichen Weltordnung Entsprechendes entschieden und ausdauernd wollen, haben es wahrscheinlich immer erreicht.
Das Wollen – das bemerke noch wohl – ist aber auch ein stufenweises, nicht ganze Lebensstufen willkürlich überspringendes. Man darf nicht in der unteren Schulklasse das wollen, was der oberen angehört, und damit seine Pflichten in der unteren vernachlässigen.
Wenn du also zum Beispiel krank bist, so wolle zuerst den rechten Weg finden, um gesund zu werden, sofern es Gottes Wille ist, oder geduldig zu werden, falls dies nicht der Fall ist. Dann werde gesund oder ergib dich in die kranken Verhältnisse. Damit wirst du vielleicht längere Zeit deine ganze Willenskraft beschäftigen müssen. Nachher, wenn das eine oder andere erreicht ist, gehe an andere Aufgaben des Wollens, die dann klar vor Augen liegen werden; so kommst du vorwärts, sonst nicht.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)