Auch die beste moderne Poesie leistet für Kranke und Gedrückte viel zu wenig; die meisten von ihnen können sich daran nicht aufrichten. Schon die heutige Generation, besonders in den deutschen Ländern, sehnt sich instinktiv aus dem völlig unbefriedigenden Realismus nach den lichten Höhen und unergründeten Tiefen echter Dichtkunst zurück, die auch durch keinen bloßen "Symbolismus" zu ersetzen ist – und ebenso aus der dieser Poesie entsprechenden bloßen »Realpolitik« in ein echtes Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit im Staat.
Aber es ist nicht so leicht, die einmal verlorene Unschuld und Kindlichkeit des warmen Gefühls für reine Wahrheit und wirkliche Größe wiederzugewinnen, wenn man sie einmal, für den gröberen Gewinn oder Genuss des Lebens oder in törichter Nachahmung fremder Beispiele, leichten Herzens aufgegeben hat. Dazu gehört meistens ein Durchgang durch Unglück. Dies allein kann die Folgen falscher Poesie und Philosophie ebenso wie die Folgen unrichtiger Politik den dadurch vergröberten Menschen handgreiflich deutlich machen.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)