Friedrich Nietzsche sagt in »Der Wanderer und sein Schatten«, zwei Menschenklassen müssten beseitigt werden: die Reichen und die Besitzlosen. Das ist in seiner exzentrischen Art zu schroff ausgedrückt, aber nicht unrichtig für einen (bisher noch »idealen«) Staat, der wirklich seinem Zweck entspricht. Man darf ruhig behaupten: Es ist heute ein Unglück, in einer dieser Klassen geboren zu sein. Beide legen der sittlichen und geistigen Entwicklung eines Menschen Hindernisse in den Weg und sind für die Gesamtheit nicht so nützlich, wie sie es sein sollten. Sonderbar ist, dass sich dennoch so wenig Reiche entschließen können, sich dieser Fessel, soweit es eine für sie ist, zu entledigen (was sie meistens ganz leicht und ohne die geringste Einbuße an wirklicher Lebensfreude tun könnten) oder wenigstens von ihrem Reichtum, wenn sie ihn selber verwalten wollen, bei Lebzeiten einen auch nur annähernd richtigen Gebrauch zu machen. Er ist eben eine Macht, die sie gefangen hält.
Reichtum und Segen sind zwei völlig verschiedene Dinge, und Reichtum, bei dem kein Segen ist, ist nicht viel wert. Erwerben kann man den Segen nicht. Er ist eine geheimnisvolle Kraft und Gabe und hängt an einzelnen Menschen wie eine Eigenschaft, die sie überallhin begleitet und sich auch auf jene erstreckt, die ihnen wohlwollen und Gutes tun. Wäre man klug, würde man stets versuchen, mit solchen Menschen in Beziehung zu kommen, und die anderen, bei denen kein Segen ist, möglichst meiden.
1 Mos 27 27–29 4 Mos 23 19–22 Hiob 42 7–9 2 Kön 4 8–10 Mt 10 13–15
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)