Zu Lk 16 19–31
Ob diejenigen, die in der sogenannten »ewigen Ruhe« weilen, noch eine klare Erinnerung an das irdische Leben haben und dieses beeinflussen können, darüber spricht sich die Heilige Schrift meines Wissens nirgends deutlich aus. Die obige Erzählung spricht zwar nicht direkt dagegen; immerhin aber wäre daraus, und auch nach gewöhnlicher Logik, eher anzunehmen, dass nur die Nicht-Guten sich reuevoll ihres verlorenen Lebens erinnern müssen.
Es ist auch gar kein besonders erhebender Gedanke, selbst von den Begnadigten alle diejenigen wiederzusehen, und zwar nun auf ewig, mit denen man hier zufällig gleichzeitig gelebt hat. Dies würde eine unauslöschliche Erinnerung an letztlich unideale Verhältnisse voraussetzen, mit denen man vielleicht lieber gänzlich abgeschlossen haben möchte und vielleicht sogar schon zu Lebzeiten abgeschlossen hatte. Schon bei der irdischen Seligkeit ist der Anfang Vergessen, und ohne ein solches Vergessen, mit Erinnerung an alles Schwere, könnte sie auch nicht bestehen.
Dennoch, trotz dieser offenkundigen Unwahrscheinlichkeit einer deutlichen Rückerinnerung, bleibt es ein ganz unabweisliches Bedürfnis des Herzens, an eine fortdauernde Verbindung mit verstorbenen wahrhaft Geliebten zu glauben, und in einzelnen Augenblicken meinen wir auch, ihr Gedenken und ihre Nähe deutlich zu verspüren.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)