30. November

Ohne Erfahrungen von Gottes Dasein würden wir in unserem innersten Denken alle Atheisten sein – trotz aller Kirchlichkeit, die davor nicht ganz zu schützen vermag, und trotz aller Unwahrscheinlichkeit der atheistischen Anschauung. Ohne solche Erfahrungen würden auch die heutigen Völker in schnellen Schritten einem völligen Unglauben entgegengehen und dem Leben einer höheren Tiergattung, wie es die Ansicht des Darwinismus ist.

Aber Gott wird sich auch im Großen und Ganzen beweisen. Zunächst durch eine tiefe Unbefriedigung, die bereits heute – nach einem bloß dreißig- bis vierzigjährigen Vorwiegen der Naturwissenschaften über die Philosophie – eingetreten ist; dann aber durch so »kräftige Irrtümer«1 und (als Folge davon) so furchtbare Schicksale, dass jedem Nachdenkenden klarwerden muss, dass eine darwinistische Welt unmöglich bestehen kann und daher auch nicht schon seit Tausenden von Jahren bestanden haben kann, ohne dass man es wusste, sondern dass es eben bloß eine gelehrte Hypothese ist.

Wer nicht an Gott glaubt, der macht sich – sofern er überhaupt ein idealistisches Bedürfnis hat – irgendein menschliches Ideal zurecht. Er muss seinem Ideal dann aber (wie z. B. Goethe) allerlei Vorzüge andichten, die es gar nicht hat, wenn er den Maßstab für Vollkommenheit nicht überhaupt verringern will.

Andere, die dafür zu klug oder zu welterfahren sind, verfallen in einen vollkommenen Skeptizismus. Sie verzweifeln an allem Guten in der Welt und versuchen, sich mit Spott darüber hinwegzusetzen. Aber was ist das Leben dann überhaupt noch wert?

Davon hat Christus uns eine Erlösung gebracht; er hat der Menschheit ein wirkliches Ideal wiedergegeben.


Thomas Henry Huxley, der Hauptvertreter des wissenschaftlichen Darwinismus in England (nach Darwin selbst), macht folgende bemerkenswerte Äußerungen:

Es mag richtig sein, dass die Sittlichkeit von einer »Vorsehung« hervorgebracht wurde, die durch Menschen wirkt. Daher gibt es innerhalb eines begrenzten Bereichs der lebendigen Welt eine moralische Vorsehung. Dieses kleine Stück eines winzigen Bruchteils des Universums wird von der Neigung zur Rechtschaffenheit durchströmt. Doch außerhalb dieses sehr unentwickelten Keims eines Garten Edens, der davon gewässert wird, kann ich keine »moralische« Absicht entdecken. Die übrige Welt sehe ich nur von der Absicht durchströmt, den kosmischen Prozess zu vollenden, hauptsächlich durch den Kampf ums Dasein, der nicht redlicher oder unredlicher ist als das Wirken einer jeden anderen Vorrichtung.

[…]

Wenn man die Lehre von einer Vorsehung so versteht, dass an einem Ort, selbst im unbedeutendsten Winkel der Natur, jeder Zufall ausgeschlossen ist; wenn damit die starke Überzeugung gemeint ist, dass der kosmische Prozess rational ist, der Glaube, dass durch alle Zeiten hindurch eine ungebrochene Ordnung das Universum beherrscht hat, dann stimme ich dem nicht nur zu, sondern bin geneigt, das für die bedeutendste aller Wahrheiten zu halten. […] Eine harmonische Ordnung, die den ewigen Fortschritt lenkt; ein Gewebe von Stoff und Kraft, das langsam, ohne einen Faden abzureißen, zu jenem Schleier verflochten wird, der zwischen uns und dem Unendlichen liegt; dem einzigen Universum, das wir kennen oder kennen können; so sieht das Bild aus, das die Wissenschaft von der Welt zeichnet.

[…]

Ich kann mir eine fest gegründete Kirche vorstellen, die ein Segen für die Gemeinde wäre. Eine Kirche, in der Woche für Woche Gedenkfeiern stattfänden, nicht um abstrakte theologische Aussagen zu wiederholen, sondern um dem menschlichen Geist das Ideal eines wahren, einfachen, reinen Lebens vorzustellen; einen Ort, an dem jene, die von der Last täglicher Sorgen erschöpft sind, einen Augenblick der Ruhe fänden bei der Betrachtung eines höheren Lebens, das allen offensteht ist, auch wenn es nur von wenigen erreicht wird; einen Ort, an dem der Mann des Wettstreits und des Handels Zeit hätte, darüber nachzudenken, wie gering letztlich der Lohn ist, nach dem er strebt, verglichen mit Frieden und Nächstenliebe. Verlasst euch darauf, wenn eine solche Kirche existierte, würde niemand versuchen, sie abzuschaffen.

Willst du, lieber Leser, dir hierzu nicht Folgendes überlegen?:

1) Eine solche Kirche, nur noch ein wenig fester und gründlicher ausgestaltet, wollen wir eben.

2) Eine »harmonische Weltordnung« ohne einen Geist, der sie geschaffen hat und harmonisch erhält, kann es nicht geben; eine solche Ordnung entsteht nicht zufällig und von selber.

3) Auch das kann unmöglich wahr sein, dass dieser ordnende Geist die Welt nur teilweise, sogar nur zum geringeren Teil regiert und den größeren Teil seinem eigenen Schicksal überlässt. Vielmehr muss diese scheinbare Nichtregierung auch ein Teil der harmonischen Weltordnung sein, die wir nur noch nicht recht verstehen. Einen Gott, der nicht allmächtig ist oder der nicht die ganze Welt geschaffen hat und regieren will, verstehen wir noch weniger als gar keinen.

Man kann vielleicht jetzt auch zu solchen Gelehrten sagen: »Du bist nicht ferne vom Reich Gottes«2, näher sogar, als du selbst es glaubst, denn dein Kampf geht gegen ein Phantom, das du dir einbildest, nicht gegen den Gott, wie er ist; und gegen menschliche kirchliche Einrichtungen, die dir missfallen, nicht gegen die »Kirche Christi«.

Was dieser Einsicht bei dir noch entgegensteht, ist ein wenig wissenschaftlicher Hochmut in der Form von Wahrheitsliebe, der aber keine völlige Überzeugung und jedenfalls keine volle Befriedigung mit sich bringt.

Joh 4 13–14    Joh 7 37–38    Joh 7 40    Joh 7 46–48    Jes 43 19

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Zitat aus Luthers ursprünglicher Übersetzung von 2 Thess 2 11

  2. vgl. Mk 12 34