Das ganze Christentum ist eigentlich, wenn man es in einer kurzen Darstellung haben und erfassen will, im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums (Joh 3) enthalten. Und noch heute bestehen darüber unter uns, mitten im Schoß der Christenheit, dieselben Irrtümer wie vor zwei Jahrtausenden.
Auch heute noch gilt: Solange sich die Natur des Menschen nicht ändert, hilft ihm keine korrekte Kirchenlehre, keine Wissenschaft und keine Werktätigkeit, um zum wahren Leben zu gelangen. Das, was das Christentum will, muss dem Menschen natürlich und so geläufig und selbstverständlich werden, wie es eben alles Natürliche ist. Man darf darüber gar nicht mehr nachdenken oder sich so etwas vornehmen müssen, sondern im Gegenteil: Das dem Christentum Entgegengesetzte muss Widerwillen verursachen und Überwindung kosten.
Wenn das so ist, tritt auch das ein, was sonst unglaublich ist und was Johannes (offenbar aus eigener Erfahrung) in seinem ersten Brief behauptet: Gottes Gebote seien gar nicht schwer; denn alles zur Natur Gewordene ist eben nicht schwer. Denke darüber nach; dahin musst du auch gelangen und dahin wirst du gelangen. Das ist der Zweck dieses Lebens; vorher betrachte dich ruhig, mit mir, lediglich als einen Freund und Schüler des Christentums.
Wir befinden uns damit übrigens in ganz guter Gesellschaft, denn ich habe in meinem Leben noch nicht viele vollkommen natürliche Christen gesehen. Und um der Wahrheit hierbei völlig die Ehre zu geben: Diese waren ziemlich gleichmäßig auf beide Konfessionen verteilt und unter den Frauen häufiger als unter den Männern.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)