Die Wahrheit zu sagen ist nicht so leicht, wie manche »Ethiker« meinen, die sich dafür begeistern.
Erstens sieht man die Wahrheit gar nicht, solange man in seinem Gedankenleben noch stark durch die Dinge dieser Welt beeinflusst ist. Daher lauteten die Worte Christi so ganz anders als die der damaligen Schriftgelehrten:
Zweitens ist es auch nicht leicht, selbst die Wahrheit, die man kennt, ganz richtig und treffend, ohne jede Übertreibung auszusprechen. Ein großer Teil aller Missverständnisse und Streitigkeiten entsteht nur durch solche Mängel in der Formulierung an sich anerkannter Dinge. Auch aus diesem Grund sind die "Worte Gottes" anders als die gewöhnlichen Reden der Menschen; das sieht man am deutlichsten in Predigten, wo das Wort der Bibel und das der Menschen unmittelbar nebeneinanderstehen, und man wird es auch in diesem Buch sehen.
Drittens spricht man meistens zu voreilig und zu viel.
Heute muss alles sofort in die Zeitungen, Zeitschriften, Vereinsblätter, noch bevor es demjenigen, der es schreibt, selber ganz klar ist. Jeder Embryo eines Gedankens oder einer Bestrebung muss schon sein »Organ« haben – in dem er dann oft wieder erstickt.
Wenn die »Ethiker« aber sagen, sie verlangten nur die subjektive Wahrheit, also das Reden nach Überzeugung, dann vergessen sie, dass man mit dem Aussprechen von Überzeugungen, wenn sie falsch oder unreif sind, sehr viel Unheil anrichten kann und dass solche Überzeugungen oft bloß Vorurteile sind.
Nicht zu lügen, das heißt, nicht gegen besseres Wissen zu reden, ist zwar eine unzweifelhafte moralische, aber eine verneinende Forderung. Die Wahrheit zu sprechen, ist dagegen etwas ganz anderes, das sich nicht vorschreiben lässt. Man muss es eben können, und wer lange gelogen hat oder auch nur in einer Atmosphäre allgemeiner Lüge lebt, wie es viele unserer gesellschaftlichen Kreise sind, der kann es nicht. Viele empfinden das tief und bitter und können es doch nicht. Und ganz sicher werden sie nicht durch die bloße Ethik aus dieser Gefangenschaft befreit.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)