Mit Recht sagt die heilige Katharina von Genua1, »der eigene böse Teil [das Ich] gefällt sich selbst, so oft er genannt wird«, sogar wenn es tadelnd geschieht. Man muss sich angewöhnen, gar nicht mehr viel an sich zu denken und sich selbst in diesem Sinn wirklich ganz zu verlassen. Doch ist das nicht möglich, bevor man die tiefe Verderbtheit der menschlichen Natur und die tatsächliche Möglichkeit eines ganz anderen Seins durch etliche Erfahrungen an sich selbst erwiesen gesehen hat.
Das Geheimnis aller menschlichen Schicksale besteht in den wenigen Worten, welche dieselbe Heilige so ausdrückt:
Des Menschen Geist will lieben und in Liebe selig sein; dazu hat ihn auch der Schöpfer bestimmt. Da er hofft, diesen Trieb mit zeitlichen Dingen befriedigen zu können, betrügt er sich selbst. Er verliert mit dieser Torheit die köstliche Zeit, die ihm geschenkt ist, anstatt Gott zu suchen, das höchste Gut, in dem er die wahre Liebe und heilige Freude finden und ganz befriedigt sein würde.
So ist es in der Tat. Aber das wirklich zu glauben ist schwer, und es gehören große Leidensperioden dazu. Erst nach solchen Zeiten der Prüfung kann der Mensch mit Hiob sagen: »Ich hatte von dir, Herr, wohl schon mit den Ohren gehört; nun aber sehe ich dich mit Augen.«
Der »Ring des Polykrates«2 ist eine psychologisch ganz richtig gedachte Geschichte. Wenn man sich von der Freude an Besitz losmachen will, dann muss man das Liebste weggeben. Sofort verliert man die Anhänglichkeit an alles andere – eine Anhänglichkeit, die sich für manche Menschen bis zu einer wahren Sklaverei gegenüber ihren Gütern, Häusern, Bibliotheken, Sammlungen, Gemälden oder anderen Wertsachen steigern kann.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)
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Katharina von Genua, 1447–1510. Vgl. Wikipedia-Artikel ↩
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Der Ring des Polykrates ist eine Ballade von Friedrich Schiller, die 1798 erstmals erschien. Vgl. Wikipedia-Artikel ↩