Zu Joh 4 24 Joh 6 65 Joh 9 39 Joh 14 6
Wissen können wir in diesem Leben nicht, was Gott ist, und ebenso wenig, was Christus ist und was der Heilige Geist ist. Alles, was darüber in den religiösen Lehrbüchern steht, ist Produkt menschlicher, mehr oder weniger richtig konstruierender Vorstellung gewesen. Hätten wir nicht eigene Erfahrungen von dem sicheren Dasein Gottes, von der Kraft des Glaubens an Christus und von der Lichtnatur eines anderen Geistes, als sie der unsrige besitzt, dann könnte niemand einen anderen als einen toten Kirchenglauben an solche menschliche Diktate haben – wie es denn auch zu allen Zeiten der Glaube vieler war und noch ist.
Wenn wir uns damit nicht begnügen wollen, müssen wir bemüht sein, aus den Worten Christi zu der Auffassung zu gelangen, wie er über diese übernatürlichen Dinge gedacht hat und gedacht wissen wollte, und uns daran halten. Man kann aber beifügen, dass auch die kirchliche Formulierung in dem »Glaubensbekenntnis« der Wahrheit so nahe kommt, wie sie mit solchen Formeln überhaupt ausdrückbar ist. Damit geht niemand einen ganz irrigen Weg, während jede Abweichung davon leicht auf gefährliche Pfade führt.
Der Heilige Geist, der manchen sonst ganz guten Christen noch etwas Fremdes, fast Befremdliches ist, vor dem sie noch eine gewisse Scheu behalten, ist ein lebendiger, wachsamer Geist der Wahrheit, der die Dinge und Menschen sieht, wie sie in Wirklichkeit sind. Den müssen wir haben, um aus den halben und ganzen Lügen herauszukommen, von denen alle menschlichen Verhältnisse umgeben und festgehalten sind.
Welches aber die »Frucht« dieses Geistes in dem Menschen ist, der ihn besitzt, kannst du bei Paulus in Gal 5 22 selber nachlesen und danach leicht beurteilen, ob er in dir und anderen schon vorhanden ist, oder nicht. Wenn es aber damit auch noch nicht ganz richtig oder schwach bestellt ist, kannst du deshalb doch schon ein "Kind Gottes" und ganz auf dem sicheren und guten Weg sein. Das sagt der Apostel den recht mangelhaften Galatern in dem gleichen Brief (Gal 3 26), und das ist uns allen ein großer Trost in schwächeren Stunden.
Manche unglücklichen Menschen machen sich viele und unnütze Gedanken darüber, ob sie »gerettet« seien. Diese sind ebenso schädlich wie eine zu große Sicherheit in dieser Frage. Das Sicherste, was darüber in der Bibel steht, ist in Joh 6 37 und Mt 11 28 enthalten, wo keine Ausnahmen für die aufrichtig Suchenden zu finden sind. Für das natürliche Gefühl aber ist das sicherste Merkmal das: wenn man die Worte Christi (nicht die Worte eines anderen, selbst nicht unbedingt die eines Apostels oder Propheten) völlig versteht, völlig billigt und gar keinen Widerspruch dagegen mehr in sich empfindet. Es ist sogar möglich, dahin zu gelangen, dass man ihn in allen seinen Taten und Worten besser versteht als jede andere historische Erscheinung, besser als alle Jünger und späteren Kirchenlehrer, besser als alle Klassiker und großen Männer des Altertums oder Mystiker des Mittelalters, besser als die Reformatoren oder die Philosophen und Theologen der Neuzeit. Das allein ist eigentlich vollständiges Christentum.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)