Während des größeren Teils ihres Lebens erhalten selbst die besten Menschen mehr Gutes, als sie verdienen, ja, bei den allermeisten Menschen ist dies sogar während ihres gesamten Erdendaseins der Fall.
Nur bei einigen wenigen darf es Gott wagen, ihnen etwas weniger zu geben, sich gewissermaßen mit ihnen auf den Rechtsstandpunkt statt auf den Gnaden- und Nachsichtsstandpunkt zu stellen, ohne dass sie sofort verzweifeln oder von ihm abfallen. Das ist die höchste Ehre, die er ihnen antun kann und die sie oft genug gar nicht verstehen und sogar zurückstoßen. Das meint der Prophet Jesajas mit den Worten: "Zion muss durch Recht erlöst werden" (Jes 1 27), und darin liegt auch eine gewisse philosophische Verständlichkeit der Befreiung aller durch das Leiden Christi – obwohl eine stellvertretende Gerechtigkeit eben doch immer Gnade und nicht Recht ist und die zugrunde liegende Frage eigentlich nicht löst.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)