27. Oktober

Auch im Hinblick auf die Geselligkeit ist, wie in vielen anderen Dingen, nur Maßhalten das Richtige. Beständigen Verkehr mit Menschen hält niemand ohne geistigen Nachteil aus. Selbst Christus musste ihn zuweilen unterbrechen und allein mit seinem Vater sein, und bei vielbeanspruchten Geistlichen, Lehrern, Vorstehern von Anstalten etc., die stets von Menschen belagert sind, ist eine Abnahme ihrer Kraft bald deutlich zu spüren. Blumhardt1 beklagte am Ende seines zuletzt auch viel zu sehr von Menschen umstellten Lebens, »im Elend begraben« zu sein. Das darf niemals eintreten und ist keineswegs Nachfolge Christi. Viele werden damit schließlich zu Leuten, von denen gar keine Kraft mehr ausgeht, deren »Salz dumm geworden« ist.

Lk 5 17    Lk 14 34    Mk 8 36    Joh 7 38

Der Hang zur Einsamkeit ist dagegen auch etwas Ungesundes, obwohl ich heute geneigt bin, ihn milde zu beurteilen, weil wir mehr unter den Folgen einer übermäßigen Berührung mit Menschen zu leiden haben. Einsamkeit macht eigensinnig, weltfremd und träge zum Guten. Ich glaube daher an keine heiligen Einsiedler: Diese Heiligkeit ist viel zu billig erworben.

Jeder muss selbst wissen, wozu seine Natur mehr neigt, und rechtzeitig Maßnahmen treffen, um eine gegenteilige Bewegung herbeizuführen.

Besonders ist es heutiges Frauenlos, dass die einen zu müßig und völlig unnütz, die anderen zu geplagt und überarbeitet sind – ein Fehler, auf den auch viele ihrer Gesundheitsstörungen zurückzuführen sind. Den einen muss mit einer nützlichen, sie interessierenden Tätigkeit, den anderen mit Ausruhen und Gelegenheit zu innerlicher Fassung zu Hilfe gekommen werden, bevor es zu spät ist.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Johann Christoph Blumhardt, 1805–1880. Vgl. Wikipedia-Artikel