Nach meiner Erfahrung im Leben entstehen die meisten Krankheiten nicht ohne die Mitwirkung sittlicher Gebrechen. Bei dem großen Heer der Nerven- oder beginnenden Geisteskrankheiten ist dies sogar fast ausnahmslos der Fall. Die Ursachen, aus denen die Krankheiten entstehen, werden aber selten behoben, oft sogar nicht einmal richtig ermittelt.
Manche Kranken schleppen sich dann ein halbes oder ganzes Leben lang durch eine Anzahl von Heilanstalten und Behandlungen und werden dadurch nach und nach stumpf oder, was noch schlimmer ist, sie erfinden immer neue angebliche Leiden, mit denen sie den Scharfsinn ihrer Ärzte auf die Probe stellen und sich eine Art von vorübergehendem Vergnügen bereiten. Hören sie von Zeit zu Zeit einmal von einem Wundermann (wie Blumhardt oder Kneipp), der alles heilen könne, dann strömen sie zu Tausenden zu ihm, sind aber gewöhnlich in kurzer Zeit wieder ebenso krank wie vorher.
Die besten Heilungen, besonders bei nervösen Krankheiten, erfolgen da, wo der Kranke einen kräftigen, wahren Glauben und einen festen Entschluss mitbringt, das wiedergewonnene Leben besser anwenden zu wollen als bisher. Dann kann ein wahrhaft wohlwollendes und edelgesinntes Heilpersonal tatsächlich Wunder bewirken (Mt 9 21–22, Mk 9 23–24, Joh 5 14). Wo das nicht der Fall ist, trifft der harte Ausspruch Mt 7 6 und der Befehl Mt 8 22 ebenso oft zu.
Dieses Elend ist heute groß, und die rechten Arbeiter, die es zu beurteilen und zu behandeln wissen, sind auch jetzt nicht allzu häufig (Mt 9 36–38, GBG 676).
Der folgende Spruch eines chinesischen Autors sollte in jedem Krankenhaus beherzigt werden:
Ein liebendes Herz ist das große Erfordernis! … Nicht unterdrücken, nicht zerstören … nicht sich selbst verherrlichen, indem man andere zertritt; sondern den Leidenden Trost spenden und ihnen behilflich sein.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)