Unser Christentum muss uns pflichtgetreuer machen für die Aufgaben des täglichen Lebens und Berufs, uneigennütziger in Geldsachen, gleichgültiger gegen Reichtum und Ehre, gütiger gegen alle Menschen, freudiger im Gemüt und hoffnungsvoller für die Zukunft: Sonst ist es mehr eine Partei- oder Kirchensache als das rechte Christentum Christi. Das Wort "Christentum" allein schon ist etwas Verleitendes. Sobald man etwas anderes darunter versteht als ein Eingehen in die Art und Denkweise von Christus, ist es ein falscher Begriff. Und wenn jemand überall herumfragt, was das Christentum wohl eigentlich sei, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er das wirkliche nicht will.
Leider haben sich die meisten unter den Gebildeten heute viel und lange mit der Frage abzumühen, ob sie überhaupt das Christentum oder irgendeine andere Denkart oder Philosophie annehmen wollen. Und wenn sie sich – meistens aus äußeren Gründen – einmal für das Christentum entschieden haben, müssen sie sich anstrengen herauszufinden, welcher »Richtung« oder »Auffassung« sie den Vorzug geben wollen. So bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit übrig, ernstlich und unbefangen von den Meinungen und Systemen des Tages darüber nachzudenken, was das Christentum eigentlich ist und was es in dem Menschen erfordert, der ihm angehören will.
Die heutige Glaubensfreiheit hat den Weg zu unserem Heil und Leben schwieriger gemacht. Er führt aber auch zuverlässiger und sicherer zum rechten Ziel – wenn er überhaupt gegangen wird.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)